Vor 30 Jahren: Die Umarmung in Kreisau

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Heute jährt sich zum 30. Mal der Tag der Versöhnungsmesse, bei der die damaligen Regierungschefs Deutschlands und Polens ein Friedenszeichen austauschten.

Tadeusz Mazowiecki (li.) und Helmut Kohl am 12. November 1989 in Kreisau.

“Zum ersten Mal sollten wir offiziell zeigen, dass wir uns zum Deutschtum bekennen”, erinnerte sich Bernard Gaida vor einem Jahr an den 12. November 1989 im Gespräch mit der Deutschen Welle. Heute ist er Vorsitzender des größten Verbands der deutschen Minderheit in Polen VDG. Damals fuhr er mit seinem Vater aus Guttentag (auf Polnisch: Dobrodzień) in Richtung des ihnen völlig unbekannten Dorfes Krzyżowa (auf Deutsch: Kreisau) in Niederschlesien, um dort den deutschen Bundeskanzler zu begrüßen.

Eine historische Versöhnungsmesse

Helmut Kohl sollte dort mit Tadeusz Mazowiecki, dem ersten nichtkommunistischen Premier Polens, an einem Gottesdienst teilnehmen. In Kreisau wartete der Erzbischof Alfons Nossol aus Oppeln (Opole) auf sie – als auch etwa dreitausend Deutsche aus Schlesien, die mit Bussen angereist waren. “Bereits zuvor hatte Nossol die Messe als ‘Versöhnungsmesse’ bezeichnet, ohne dieses Ziel genauer zu definieren”, berichtet Gregor Feindt vom Leibniz-Institut für Europäische Geschichte in Mainz in einem Buch, das in diesen Tagen erscheint (“UN)VERSÖHNT? Gedanken über die deutsch-polnischen Beziehungen nach 1945”)

Umstrittener Sankt Annaberg

Eigentlich wollte Nossol den Kanzler in Sankt Annaberg (Góra Świętej Anny) in Oberschlesien begrüßen. Er lud Helmut Kohl ein, einen Gottesdienst im wichtigsten schlesischen Pilgerort zu besuchen, “wo sich drei Kulturen – polnisch, deutsch und tschechisch – zusammenschließen”, wie er der Deutschen Welle im Vorjahr erzählte. Seit dem 4. Juni 1989 durften dort nämlich heilige Messen auf Deutsch gehalten werden. Aber dafür war es politisch noch entschieden zu früh. In Warschau hatte die Einladung starke Nervosität ausgelöst.

War damals mit dabei: Erzbischof Alfons Nossol

Sankt Annaberg ist nämlich nicht nur ein wichtiger religiöser Ort auf der Landkarte Schlesiens. Dort hatten Polen und Deutsche während des III. schlesischen Aufstandes gekämpft. Ein Besuch des deutschen Kanzlers gerade da konnte bei den unvorbereiteten Polen starke Emotionen auslösen. Für Kreisau entschied man sich fast im letzten Moment.

Angst und Begeisterung

Dichter Nebel hatte die Region schon am Vorabend umhüllt. Deshalb reiste der deutsche Kanzler mit dem Bus nach Kreisau. Der polnische Premier entschied sich für den Zug. Gaida und sein Vater hatten andere Sorgen. Sie fürchteten sich, dass ihr Bus mit Steinen beworfen werden könnte. Nichts dergleichen geschah. “Wir fuhren mit Angst hin, voller Befürchtungen. Wir kehrten im Begeisterungstaumel zurück”, so Gaida. Er selbst bemängelte nur, dass er mit keinem Polen das Friedenszeichen austauschen konnte. “Es waren fast keine da.”

Kreisauer Kreis

Krzyżowa war für die Polen überhaupt kein Begriff. Die Deutschen wussten, dass der berühmte Feldmarschall Helmuth von Moltke dort lebte und begraben wurde. Aber nicht seinetwegen wurde Kreisau gewählt. Dahinter stand die Erinnerung an eine deutsche Widerstandgruppe, der etwa 20 Menschen angehörten. Ihre Zentralfigur war Helmuth James von Moltke, Urgroßneffe des Feldmarschalls. Die Gruppe plante keine bewaffneten Aktionen, sondern diskutierte über die Neuordnung Deutschlands und Europas nach dem Fall des Hitler-Regimes. Sie wurde 1944 aufgedeckt und von der Gestapo als Kreisauer Kreis bezeichnet. Mehrere ihrer Mitglieder wurden zum Tode verurteilt, darunter auch von Moltke.

Teilnehmer des Seminars zur Deutsch-Polnischen Versöhnung. In der Mitte Erzbischof Alfons Nossol.

“Er wurde nicht für eine konkrete Tat verurteilt. (…) Für das Urteil reichten allein Gedanken und Worte”, schreibt Krzysztof Ruchniewicz vom Breslauer Willy-Brandt-Zentrum in seinem Buch “Kreisau neu gelesen”.

Kreisauer Konferenz

Kazimierz Czapliński, langjähriger Präsident des Klubs der Katholischen Intelligenz (KIK) in Breslau, und seine Frau Wanda hatten schon in den 1970er Jahren gute Kontakte zu ähnlich denkenden Menschen in Ost- und Westdeutschland. “Der Ort Krzyżowa, 60 km von Warschau entfernt, und die Geschichte des Kreisauer Kreises waren ihnen nicht vertraut. Sie erinnerten sich später, dass ein Besucher aus Deutschland ihnen davon erzählt haben musste”, berichtet Annemarie Franke in der schon erwähnten Publikation “(UN)VERSÖHNT?”.

“Mir imponierte gerade auch das Engagement der jüngeren Teilnehmer, von Michał Czapliński und seiner späteren Frau Maryna Jarodzka und von Joanna Wieczorek. Den Ton gaben selbstverständlich die KIK-Leitung und andere wichtige Persönlichkeiten an, wie Ewa Unger, Janusz Witt und Marian Łukaszewicz“, erinnert sich Prof. Ruchniewicz, der als Student an der Breslauer Kreisau-Konferenz im Juni 1989 teilgenommen hatte. Ihre Teilnehmer schickten einen Brief an das Warschauer Außenministerium, wo sie die Gründung einer Jugendbegegnungsstätte und eines Museums des europäischen Widerstandes gegen das Hitler-Regime vorschlugen.

Bürgerliche Ikone

Es scheint inzwischen sehr wahrscheinlich, dass diese bürgerliche Initiative zur Wahl Kreisaus anstatt Sankt Annaberg stark beigetragen hat. Auch danach war die Rolle der regierungsunabhängigen Organisationen in der Verewigung der Geste von Kohl und Mazowiecki nicht zu unterschätzen. Viele trauten nämlich dem deutschen Bundeskanzler nicht und versuchten sogar die Umarmung von Kreisau zu verspotten. Dank der Bürgergesellschaft wurde jedoch das Bild vom 12. November 1989 zur wahren Ikone des deutsch-polnischen Verhältnisses.