Die Mauer ist noch da

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“Es wächst zusammen, was zusammengehört”, sagte Altkanzler Willy Brandt beim Fall der Mauer. Heute scheint es, als passten Ost und West weniger zusammen denn je. Wie sehen Psychologen beider Seiten die Entwicklung?

Der Osten holt wirtschaftlich mächtig auf. Das ist das Ergebnis des jüngsten Berichts der Bundesregierung zum “Stand der deutschen Einheit”. Darin heißt es: “Das Zusammenwachsen Deutschlands und die Angleichung der Lebensverhältnisse sind seither weit vorangekommen.” Politisch und emotional dagegen scheint die Spaltung eher noch tiefer zu werden. So fühlen sich laut einer Umfrage 57 Prozent der Ostdeutschen als Bürger zweiter Klasse, und knapp die Hälfte von ihnen ist eher unzufrieden mit der Funktionsweise der Demokratie. Die Bewertung der Wiedervereinigung zwischen Ost und West geht weit auseinander.

Der ostdeutsche Psychotherapeut Hans-Joachim Maaz glaubt, die Ostdeutschen hätten durch die DDR-Erfahrung ein distanziertes Verhältnis zum Staat: “Die Menschen im Osten sind allgemein kapitalismuskritischer, obrigkeitskritischer, medienkritischer…Von daher gibt es eine Protestbewegung gegen die westdeutsch dominierte Politik.”

Die Euphorie von 1989 ist lange verflogen

Die westdeutsche Sozialpsychologin Beate Küpper dagegen meint, es sei angesichts der langen Trennung durch die Mauer “keine Selbstverständlichkeit, dass überhaupt Ost- und Westdeutsche sich ähnlich sein sollten”. Problematisch seien nicht die Unterschiede an sich, sondern der Eindruck einer “kollektiven Benachteiligung”. Es gehe “um ein Gefühl der Anerkennung, von Wertschätzung, von Teilhabe und Mitsprache”.

Die AfD punktet vor allem im Osten

Vielleicht am deutlichsten zeigt sich die Spaltung an den Wahlergebnissen der rechtspopulistischen Partei AfD. Bei Landtagswahlen im Westen erreicht sie Stimmenanteile von um die zehn Prozent, im Osten von rund 25 Prozent, so wie jüngst in Brandenburg, Sachsen und Thüringen.

Im Osten hat ausgerechnet der West-Import AfD die Rolle der Protestpartei von der Linkspartei übernommen, die als Nachfolgerin der früheren DDR-Staatspartei SED wie geschaffen war, um das Gefühl von Ost-Nostalgikern auszudrücken. “Vollende die Wende” hat die AfD in ostdeutschen Wahlkämpfen plakatiert, offenbar mit Erfolg. Maaz hält es für einen großen Fehler, die Wähler der AfD im Osten in die rechte Ecke zu stellen: “Wenn man sie nur beschimpft und diskriminiert, ist das das wirksamste Mittel, diese Partei stark zu machen.”

Der Trend bei der jüngsten Bundestagswahl hat sich auch bei Landtagswahlen fortgesetzt

Demokratie ist niemals fertig

West-Politiker reagieren auf die guten AfD-Ergebnisse im Osten manchmal mit Überheblichkeit. Als der Grünen-Vorsitzende Robert Habeck Anfang des Jahres in einem Wahlkampf-Video sagte: “Wir versuchen, alles zu machen, damit Thüringen ein offenes, freies, liberales, demokratisches Land wird”, brach im Osten ein Sturm der Entrüstung los. Denn seine Aussage klang, als wäre ganz Thüringen in seinen Augen kein demokratisches Land. Der aus Thüringen stammende SPD-Bundesgeschäftsführer Carsten Schneider fragte auf Twitter: “In welchem Gefängnis habe ich die letzten Jahre gelebt?” Und in einer Bundestagsdebatte sagte der AfD-Abgeordnete Leif-Erik Holm, die Ostdeutschen bräuchten “keine Nachhilfe in Demokratie”.

Beate Küpper meint, weder der Westen sei 1945 “auf Knopfdruck” demokratisch gewesen noch der Osten 1989, Demokratie müsse immer weiterentwickelt werden: “Von daher wäre es fairer gewesen, wenn Habeck gesagt hätte: Wir müssen uns insgesamt demokratisieren.” Trotzdem sei es “kein Wunder, dass wir im Osten in einiger Hinsicht da noch mehr Nachholbedarf haben als im Westen, schließlich hatte der Osten weniger Zeit”.

Wie in einer Beziehungskrise: Man hört sich nicht zu, versteht sich nicht, jeder will Recht haben

Maaz vermisst bei den Westdeutschen, dass sie sich auf das Denken und Fühlen der Ostdeutschen einlassen: “Der andere kann auch Recht haben. Und ich kann mit meiner Meinung auch falsch liegen. Das wäre die Basis eines demokratischen Diskurses.”

Geld ist nicht alles

Die Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt fordert vor allem Investitionen in gute Infrastruktur als Antwort auf den Rechtsruck: “Menschen in abgehängten Regionen vertrauen keinem Staat, der sie augenscheinlich vergessen hat.” So oder ähnlich sehen es viele Politiker in praktisch allen Parteien.

Beate Küpper glaubt aber nicht, dass man das Problem allein mit Geld lösen kann. Denn so lasse sich weder das Gefühl der Diskriminierung beseitigen noch die Erfahrung der Menschen, dass die Wiedervereinigung ihnen tiefe Einschnitte im eigenen Leben abverlangt hat. Gleichzeitig wollten viele Ostdeutsche nicht als “Opfer der Verhältnisse” betrachtet werden, schließlich hätten sie ihr Leben selbst in die Hand genommen und den Wandel bewältigt.

Alle Investitionen im Osten haben ein verbreitetes Gefühl kollektiver Benachteiligung nicht wegwischen können

Unterschiede müssen kein Problem sein

Christian Hirte, der Ostbeauftragte der Bundesregierung, zieht eine zweigeteilte Bilanz: “Der ökonomische, soziale und gesellschaftliche Zustand im Osten ist viel besser, als wir uns das vor 30 Jahren vorgestellt hätten.” Gleichzeitig seien die Menschen im Osten “veränderungsmüde”, und Hirte warnt: “Wir dürfen sie nicht überfordern.”

Hans-Joachim Maaz rät den Westdeutschen: “Hört die Ostler, diffamiert sie nicht! Schmiert sie nicht braun an!” Man solle sich inhaltlich mit ihrer Kritik auseinandersetzen. Die “Protestbewegung aus dem Osten”, wie sie auch in Stimmen für die AfD zum Ausdruck komme, sei eine “Hilfe, das besser zu verstehen, was verändert werden muss”.

Beate Küpper kommt zu dem überraschend positiven Schluss, die Unterschiede zwischen Ost und West seien für sich genommen gar nicht schlimm: “Ich weiß gar nicht, ob das eigentlich so ein Problem ist, wenn es nicht so hoch aufgeladen wäre mit Wertigkeit. Das ist, denke ich, das Problem.” Den Rest sieht sie als willkommene Vielfalt, so wie auch Bayern und Norddeutsche unterschiedlich sind. Es habe “etwas Bereicherndes und Interessantes, dass wir in Deutschland unterschiedliche Regionen haben und es eben nicht überall gleich ist”.