Der Blick nach Berlin: Wie die Presse in Osteuropa auf den Mauerfall reagierte

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Die rumänischen Zeitungen schwiegen sich aus, die kroatischen jubelten. Was stand in der osteuropäischen Presse zum Mauerfall vor dreißig Jahren? Eine Analyse.

Liest man die rumänischen Zeitungen vom 11. November 1989, würde man meinen, nichts Weltbewegendes sei geschehen. Mit Ausnahme des “meisterhaften Vortrags des Genossen Nicolae Ceausescu auf der erweiterten Plenarsitzung des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Rumäniens”, wie das Parteiorgan “Scînteia” (dt. “Funke”) schreibt, in dem der rumänische Staats- und Parteichef das “brillante Programm für die Arbeit und den revolutionären Kampf des ganzen Volkes” sowie die “vorbildliche Erfüllung der wirtschaftlichen Aufgaben” in hohem Maße lobt. Was sich 1500 km nordwestlich von Bukarest, im geteilten Berlin, in diesen Tagen abspielte, wird mit keinem Wort erwähnt. Dafür wird der Sozialismus als der “Weg der freien, unabhängigen Entwicklung der Völker” gepriesen.

Artikel in der bulgarischen Zeitung “Rabotnichesko delo”

Auch in Bulgarien hält sich die Freude über den Mauerfallin Grenzen: Das “Rabotnitschesko delo” (dt. “Arbeiterwerk”), das Presseorgan der Bulgarischen Kommunistischen Partei, widmet sich nur beiläufig dem dreitägigen zehnten Plenum der SED und listet die Mitglieder des Zentralkomitees auf, die aus “disziplinarischen Gründen” ausscheiden mussten. Die neuen Reisebedingungen finden in der Zeitung vom 10.11.1989 zwar Erwähnung, der Autor des Textes stellt jedoch mit den Worten Günther Schabowskis klar, dass die Gründe für die Existenz der Mauer nicht aus der Welt geschaffen worden seien, nur weil diese jetzt passierbar sei. Das Wort “Mauer” wird in Anführungszeichen gesetzt, als ob es sie nie gegeben hätte und es eine irreführende Bezeichnung wäre (im Jargon der sozialistischen Parteiführung war die Mauer ein “Schutzwall”).

Ein gut versteckter, kurzer Kommentar auf Seite 4 der Zeitung “Trud” (dt. “Arbeit”), dem Presseorgan der Gewerkschaften, gibt ein visionäres Bild der Geschehnisse ab: “Fortan wird man noch viel mehr über die Teilung sprechen, als das bis jetzt der Fall war”, prophezeite der Autor Dragomir Draganov am 14.11.1989. In der Tat: Heute – 30 Jahre nach dem Mauerfall – wird in Deutschland immer noch über die Unterschiede in Ost- und Westdeutschland diskutiert, wie etwa beim Thema Renten und Lohnniveau oder Ausbau von Betreuungsplätzen. Der Autor schreibt weiter: “In der DDR wurden wichtige soziale Errungenschaften erzielt, die man jetzt (Anm. d. Red.: nach dem Mauerfall) nicht so schnell vernachlässigen sollte.”

Freude in Kroatien und Polen

Der Mauerfall als Aufmacher in der kroatischen Zeitung “Vecernji list”

In Kroatien hingegen jubelt die Presse euphorisch. Auf ganzen vier Seiten berichtet die auflagenstarke Zeitung “Večernji list” über die Ereignisse in Berlin. Ein Foto von einem Mann auf der Mauer mit Hammer in der Hand ist betitelt mit: “Als ob in diesen Hammerschlägen die ganze aufgeladene Wut all der Jahre steckt, die man hinter der Berliner Mauer verbracht hat.” In Berlin herrschten “karnevalsähnliche Zustände”. Mit leicht sarkastischem Ton zitiert “Vecernji list” den ehemaligen Staatschef Erich Hoenecker, der noch zu Beginn des Jahres gesagt hatte, die Mauer werde auch in 100 Jahren noch stehen.

Ein weiterer Artikel in derselben Ausgabe behauptet, der Kreml habe von den Entwicklungen schon im Vorfeld gewusst, da doch Honeckers Stellvertreter Egon Krenz Anfang November Michail Gorbatschow in Moskau getroffen und ihn sicherlich mit seinen Plänen vertraut gemacht habe. Von einer spontanen, nicht vorhersehbaren Wende der politischen Ereignisse ist die kroatische Zeitung in ihrer Ausgabe vom 10.11.1989 nicht ausgegangen.

Prompte Berichterstattung in Polen und der Sowjetunion

Titelseite der ungarischen “Népszava” vom 11. November 1989

Die polnische “Gazeta Wyborcza” titelt “Europa ohne Mauer” und schreibt: “Keiner weiß, welche Konsequenzen die faktische Abschaffung der Berliner Mauer nach sich ziehen wird. Dennoch: Es ist bereits etwas Unumkehrbares geschehen: Die Schüsse gegen Menschen haben aufgehört. In Berlin, im Herzen Europas, im Streit der Freiheit gegen Stacheldraht, hat die Freiheit gesiegt”

“Die Grenzbeamten schauten nur zu, als mehrere die Mauer erkletterten und sich oben hinsetzten, auf die Mauer, an der jährlich mehrere Menschen bei der Flucht erschossen wurden”, so beschreibt die ungarische Zeitung Népszava (dt. “Volksstimme”) die Ereignisse in der geteilten Stadt. “Berlin feiert”, schreibt die Zeitung Népszabadság (dt. “Volksfreiheit”) und nennt in ihrem Stimmungsbericht aus Berlin die Mauer ein “Symbol der Vergangenheit”.

Auch die Presse in der Sowjetunion widmet sich den aktuellen Ereignissen in Berlin. Die Zeitung “Iswestija” (dt. “Nachrichten”) schreibt bereits am 10.11.1989 über die “dramatischen Tage” in der DDR. Auch über die Rede von Egon Krenz über die Erneuerung und Lockerung der neuen Reiseregeln wird ausführlich berichtet. 

“Neues Deutschland” und die Berichterstattung in der DDR

Und wie sah es in der DDR selbst aus? Dort versuchte die Presse die Ereignisse herunterzuspielen, gar zu verklären. Schuld an der aktuellen Situation habe der Westen, so die Zeitung “Neues Deutschland”, das Zentralorgan der SED. Sie zitiert Rudi Mittag, den stellvertretenden Minister für Staatssicherheit, der über die “unverhüllte Einmischung von Politikern und Medien der BRD in unsere Angelegenheiten” spricht. “Solche anmaßenden, solche revanchistischen Forderungen (…) tragen erheblich zur Verschärfung und Anheizung der Lage bei.” Weiter zitiert die Zeitung eine Rede des Sprechers des sowjetischen Außenministeriums, Gennadi Gerassimow, die Grenze sei deswegen nicht verschwunden, wenn auch einige westliche Kommentare diesen Anschein erwecken wollten. Gerassimow erinnert dabei auch an die Worte von Egon Krenz, dass die Staatsgrenze der DDR nicht dazu diene, die Kontakte zwischen Menschen zu verhindern.

“Neues Deutschland”-Titelseite am Tag nach dem Mauerfall.

Statt über die Ereignisse an der Mauer zu berichten, fokussiert sich “Neues Deutschland” auf das Treffen zwischen Johannes Rau, damals stellvertretender SPD-Vorsitzender und Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, und Egon Krenz, in dem der SED-Generalsekretär seinen westdeutschen Kollegen über die “konsequenten Schritte für die Erneuerung in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft” informierte. Ziel sei die Erneuerung, ausgehend von den Interessen und Bedürfnissen des Volkes, man wolle den Sozialismus für jeden Bürger attraktiver und lebenswerter gestalten.

Späte Einsicht

Zentralkomitee-Mitglied Kurt Hager wird immerhin mit den selbstkritischen Worten zitiert: “Ich muss auch sagen, dass ich mich ganz offensichtlich immer weiter entfernt habe – obwohl man mir das ganz klar gesagt hat – vom tatsächlichen, realen täglichen Leben, von dem, was in den Betrieben oder in den Kaufhallen oder sonst wo vor sich ging.” Lediglich mit einem kleinen Foto und der Aufschrift “Viel Verkehr an den Grenzpunkten” widmet sich die Zeitung den Geschehnissen an der Mauer.

Auch einige Menschen auf der Straße kommen zu Wort: “Prima Sache! Heute Abend sind wir wieder zurück”, sagt ein Passant. Eine andere Befragte antwortet: “Die Straßen sehen auch nicht anders aus als in Prenzlauer Berg, sicher, die Geschäfte sind bunter, das Angebot beeindruckender, aber zu Hause bin ich auf der anderen Seite. Dort habe ich meine Arbeit, eine schöne Wohnung, einen Kindergartenplatz für Nicole.”

Quellen und Unterstützung bei der Recherche:

Bulgarische Nationalbibliothek “Die Heiligen Kyrill und Methodii”, Sofia

Kroatische National- und Hochschulbibliothek in Zagreb

Jagiellonian Bibliothek an der Jagiellonian Universität in Krakow

Archiv Neues Deutschland Druckerei & Verlag GmbH

Recherche und Übersetzung aus dem Ungarischen: Gabriella Balassa.

Übersetzung aus dem Rumänischen: Alexandra Scherle.