Das Wendejahr 1989: “Spannend wie ein Krimi”

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Zsuzsa Breier erlebte die deutsche Wende in Heidelberg und Budapest. Warum es ihr wichtig war, das Jahr 1989 Tag für Tag nachzuerzählen, und was sie bei ihrer Recherche besonders erschüttert hat, hat sie der DW erzählt.

Deutsche Welle: Frau Breier, Sie haben sich als Literaturwissenschaftlerin höchst intensiv mit dem Jahr 1989 beschäftigt. In einer jahrelangen historischen Recherche in Deutschland und Ungarn haben Sie Berge von Akten durchforstet, um auf dieser Grundlage ein Buch über das Jahr 1989 zu schreiben. Warum braucht es für einen Roman dieses ganze Aktenstudium?

Diesen Stoff gehe ich mit großer Demut an, eben weil ich keine Historikerin bin. Geschichte hat mich immer interessiert, aber im Kommunismus hat man zwei Sachen sicherlich nicht studiert: Politikwissenschaft und Geschichte. Um das Jahr 1989 bis zum Tag des Mauerfalls zu erzählen, braucht man aber auch den genauen Blick des Historikers, weshalb ich auch mit Historikern in Deutschland und Ungarn in Kontakt bin.

Sie erzählen das Jahr 1989 chronologisch, und zwar Tag für Tag, bis zum 9. November. Was war Ihr Anliegen?

Ich hatte mir vorgenommen, wirklich hinzugucken und nicht einfach die großen, bekannten Ereignisse zu erzählen. Sie sind inzwischen von so vielen Geschichten überlagert, dass man nicht mehr so richtig herausfinden kann, was wir damals wirklich empfunden haben. Wie waren wir Menschen in Ungarn und in beiden Teilen Deutschlands? Wie haben wir gedacht? Wofür haben wir gelebt? Um dafür ein Gefühl zu bekommen, habe ich mir die Form des dokumentarischen Romans ausgesucht: Tag für Tag dieses Jahr zu begleiten und zu gucken, wie sich das alles entwickelt hat – auch in unseren Köpfen. Wie haben die Ereignisse uns mitgenommen, wie haben wir reagiert, wie sind wir mit dieser ganzen Zeit umgegangen? Und was hat diese Zeit aus uns gemacht, wie haben wir uns verändert?

Sie erzählen aus drei verschiedenen Perspektiven, aus Ungarn, der DDR und der Bundesrepublik.

Ich zeige die Unterschiede, das ist mir ganz wichtig. Wir waren in der Bundesrepublik, in der DDR und in Ungarn so unterschiedlich – und trotzdem hat dieses Jahr uns einander so nahe gebracht wie nie zuvor. Und leider muss ich im Nachhinein auch feststellen, offenbar auch nicht danach. Das war ein absoluter Höhepunkt, der Wille zum Miteinander.

Was für Unterlagen haben Sie studiert?

Es hat mich immer sehr gestört, dass so viele so Unterschiedliches erzählen. Unsere Gesellschaften sind letztlich bis heute auch entlang dieser unterschiedlichen Erzählungen gespalten.

Hunderte DDR-Flüchtlinge flohen bei einer kurzfristigen Grenzöffnung im August 1989 aus Ungarn nach Österreich

Für mein Buch wollte ich mich nicht auf eine Seite schlagen, ich hatte mir vorgenommen, aus Dokumenten zu arbeiten, und forschte in Archiven in Ungarn und in Deutschland, in den Staatssicherheitsarchiven, Nationalarchiven, Parteiarchiven, auch in einem Privatarchiv –  das war nicht nur spannend, sondern auch extrem erkenntnisreich.

Manchmal hatte ich den Eindruck, ich müsste ja gar nichts hinzufügen oder kommentieren, wenn ich das so, wie ich es vorgefunden habe, aufschreibe. Das war so inhuman, wie in den Stasiberichten über Menschen geredet und geschrieben wurde. Schon die Sprache verrät alles.

Gab es – abgesehen vom 9. November – einen Tag, der Sie beim Aktenstudium besonders verblüfft oder beeindruckt hat?

Es gab eine Geschichte, die mich erschüttert hat. Ich lebe heute in Berlin-Zehlendorf. Ich habe im Stasi-Archiv ein Bild von der Ballonflucht von Winfried Freudenberg gefunden, auf dem ich unsere Straße erkannte. Freudenberg stürzte am frühen Morgen des 8. März 1989 ab, als letztes Opfer der Mauer, fast direkt vor unserer jetzigen Haustür. Auf dem Bild sehe ich die Bäume, die noch heute stehen, und wie darin die Ballon-Fetzen hängen. Ich bin zu diesem Baum hingegangen. Da steht kein Schild, das weiß kein Mensch. Niemand von unseren Nachbarn hatte eine Ahnung, dass dort vor 30 Jahren der letzte Mauertote verunglückte, der Leichnam wurde erst am späten Nachmittag in der Nähe des Mexiko-Platzes gefunden.

Die Willkür, die Unfreiheit, die Brutalität, mit der Fluchten verhindert und Menschenleben verunmöglicht wurden, sind schockierend.

Wie kam es zum Abbau der ungarischen Grenzsicherung?

Wie die Grenze aufging, ist eine der Geschichten, die von den meisten Beteiligten anders erzählt wird. Das Bild beispielsweise, wie der damalige ungarische Außenminister Gyula Horn und der österreichische Außenminister Alois Mock mit zwei großen Zangen den Grenzzaun durchschneiden, ist gestellt – da war der Grenzzaun längst abgebaut. Für die beiden Politiker ist ein Stück wieder aufgebaut worden, damit sie sich medial inszenieren konnten. Das ist eines der Bilder, die wir im Kopf haben. Und jeder denkt dabei, Gyula Horn habe die Grenze abgebaut. Dabei war das nicht nur nicht seine Idee, er soll sich auch dagegen ausgesprochen haben. Es war der Druck aus der Gesellschaft, die den Ereignissen diese Richtung gab.

Es ist schade, wenn sich die Erinnerung auf so falsche Bilder stützt. Denn richtig ist, dass in Ungarn die Oppositionellen, die viel breiter organisiert waren als in der DDR, sich für die Flüchtenden einsetzen. Zuerst für die Flüchtlinge aus Rumänien, auf die von den rumänischen Grenzern geschossen wurde, und dann für die DDR-Flüchtlinge. Es gab ein bilaterales Abkommen zwischen der DDR und Ungarn, nach dem die Flüchtlinge der Stasi ausgeliefert werden mussten. Natürlich wussten die Ungarn, was mit denen passierte, die bei der Stasi landeten. Die ungarische Gesellschaft protestierte gegen diese inhumanen Praktiken, die Opposition machte daraus dann Politik, indem sie das Regime unter Druck setzte. Am Ende kamen all diese kleinen Mosaiksteine zusammen. Nicht ein Ereignis und nicht eine Person hat die Öffnung des Eisernen Vorhangs bewirkt, sondern der ständig gestiegene Druck. Gerade das will ich auch mit meiner tagtäglichen Geschichte zeigen. Am Ende steht der Fall der Mauer.

Symbolische Grenzöffnung: Gyla Horn und Alois Mock durchschneiden den Grenzzaun

Alles, was wir bisher besprochen haben, ist historisch orientiert. Wie macht man denn aus so einem Stoff einen Roman, der sich interessant und möglicherweise unterhaltsam oder tiefgründig lesen lässt?

Das, was ich in den Archiven finde, ist spannend wie ein Krimi, erschütternde Zeugnisse einer brutalen Willkürherrschaft, die wir zum Glück hinter uns gelassen haben. Ich muss das natürlich auch spannend erzählen können. Dazu gehört sicherlich auch meine  Lebenserfahrung. Die Geschichten, die ich von meiner Mutter hörte, aus dem Krieg und aus dem Kommunismus. Dass ich wissenschaftlich-historisch arbeite, ist nur die eine Seite. Dass mir das alles durch meine Geschichte unter die Haut geht, gehört dazu.

Im Moment ist das Verhältnis zwischen Deutschland und Ungarn wegen der wechselseitigen Flüchtlingspolitik angespannt. Haben Sie einen Ratschlag für die Gegenwart?

Ich mache dieses Buch nicht nur, weil dieses Jahr eine Zäsur ist in der europäischen Geschichte, sondern weil unser Leben heute hier in der deutschen und auch in der ungarischen Gesellschaft daraus entstanden ist. Ich bin überzeugt, wenn wir unsere Geschichten einander nicht erzählen, wenn wir einander nicht zuhören, wird es schwierig, als Europäer alle miteinander zusammenzuleben.

Sehen Sie irgendeine Verbindung von dem, was vor länger als 30 Jahren, also noch zu DDR-Zeiten, geschehen ist, zu heutigen rechtsextremen Tendenzen?

Mich hat in den Archiven ein Fund besonders überrascht: wie der SED- Staat, der sich als antifaschistisch definierte, die eigenen Nazis einfach ignorierte und nichts gegen sie tat. In den Akten ging es nicht nur um Republikflüchtlinge, immer wieder gab es Berichte über neonazistische Motive, über Jugendliche, die sich verprügelten oder die fremde, kongolesische und vietnamesische Gastarbeiter verprügelten. Diese Brutalität und dass das nicht bestraft worden ist, das hat mich überrascht. Damit hat sich nach der Wende kaum jemand beschäftigt. Dass der SED-Staat aus ideologischen Gründen den eigenen Neonazismus versteckte und als “Rowdytum” verharmloste – weder der Hitlergruß noch neonazistische Gewalttaten sind kaum jemals abgestraft worden – hat offenbar Spätfolgen.

Haben Sie auch Hinweise auf Antisemitismus gefunden?

Auch das. Der SED-Staat brachte ständig das Argument, die DDR sei der bessere, da antifaschistische Staat. Die Realität könnte nicht weiter davon entfernt sein. In den streng geheimen Berichten lässt sich nachlesen, wie viel Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit in der DDR-Gesellschaft vorhanden war. Und das Erschreckende: Keiner hat sich darum gekümmert.

Lesen Sie hier einen Auszug aus dem Roman “Besondere Vorkommnisse”, den die Autorin der Deutschen Welle als Vorabveröffentlichung zur Verfügung gestellt hat.

Die 1963 in Ungarn geborene Zsuzsa Breier studierte in Budapest und Heidelberg Germanistik und Kulturwissenschaft und lehrte an der Berliner Humboldt-Universität. Im Jahr 2000 wechselte sie in den diplomatischen Dienst und leitete bis 2004 die Kulturabteilung der ungarischen Botschaft. 2012 wurde sie als Staatssekretärin für Europaangelegenheiten die erste Staatssekretärin in Deutschland ohne einen deutschen Pass. Seit 2016 arbeitet sie als freie Autorin.