Kommentar: Kein Grund zur Eile beim Brexit

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Bei einer Schicksalsfrage wie dem EU-Austritt ist Zeitdruck völlig unnötig, meint Bernd Riegert. Die Briten sollten lieber ein neues Parlament und einen Premier wählen, um sich klar zu werden, was sie wirklich wollen.

Der Brexit-Fahrplan wird immer unübersichtlicher. Noch wehrt sich Premierminister Boris Johnson, aber er wird einsehen müssen, dass er es ohne eine Verlängerung der Brexit-Frist nicht mehr schaffen wird, seinen frisch ausgehandelten Vertrag mit der EU durch das vertrackte Labyrinth des britischen Unterhauses zu bekommen. Der Sprecher des Parlaments hat eine erneute Abstimmung über den Austrittsvertrag abgelehnt. Zunächst müsse die Regierung jetzt die Ausführungsgesetze für den Brexit-Vertrag mit der EU vorlegen.

Dieses überaus komplexe Gesetzeswerk noch rechtzeitig vor dem bislang angepeilten Austrittsdatum am übernächsten Donnerstag zu verabschieden, erscheint mehr als sportlich. Die Abgeordneten wedeln bereits mit einer Reihe von Änderungsanträgen. Und auch das Oberhaus, also die zweite Kammer des britischen Parlaments, hat während des Gesetzgebungsverfahrens noch ein Wörtchen mitzureden. Ähnlich komplexe Gesetze brauchen für die erforderlichen drei Lesungen mindestens ein Vierteljahr und nicht die gute Woche, die jetzt noch übrig ist.

Johnson ist reif

Der störrische Johnson hat sein politisches Schicksal an den 31. Oktober geknüpft. Mit oder ohne Vertrag raus aus der EU war sein Glaubensbekenntnis in den 90 Tagen, die er jetzt Premierminister ist. Ohne Deal ist ein Austritt jedoch ausgeschlossen, dafür hat das Parlament in London gesorgt. Johnson musste in Brüssel um eine Verlängerung der Verhandlungsphase nachsuchen. Und das wird die EU im Falle eines Falles auch einstimmig beschließen, um einen “harten Brexit”, also ein Ausscheiden der Briten ganz ohne Vertragsnetz und den doppelten Boden einer Übergangsfrist, zu vermeiden. Schon im eigenen Interesse, denn ein Kamikaze-Brexit à la Boris Johnson kann nur zu einem Desaster führen.

Die zweite Option für Johnson, der Brexit mit Deal zum Monatsende, wird wegen des Widerstands im Parlament und des immer komplexer werdenden Verfahrens zunehmend unwahrscheinlicher. Aus Sicht der EU gibt es für Eile auch keinen Grund. Das Brexit-Datum zu Halloween ist im April willkürlich gesetzt worden. Wenn er die selbst gesetzte Messlatte jetzt reißt, kann Boris Johnson eigentlich nur Neuwahlen anstreben, wofür er aber auch keine Mehrheit hat. Er könnte auch zurücktreten und so Neuwahlen auslösen, wenn sich das Parlament in Westminister nicht auf einen Nachfolger einigen kann.

Verlängerung der Austrittsphase scheint unabdingbar

Neuwahlen würden allerdings auch eine Verlängerung der Verhandlungsfrist nach Artikel 50 der EU-Verträge nötig machen, ansonsten droht kommende Woche der harte Brexit. Um das Drama um den Brexit zu entschärfen und den völlig überflüssigen Zeitdruck aus dem Verfahren zu nehmen, sollte die EU jetzt schnell und ohne Zögern eine Verlängerung genehmigen. Am besten wäre eine, die erst endet, wenn die Briten soweit sind. Damit würde Boris Johnson und eventuellen Nachfolgern die Möglichkeit genommen, mit willkürlichen Fristen Druck auf Verhandlungspartner und Parlamentarier auszuüben.

Sicher ist nur, dass uns der Brexit noch länger beschäftigen wird. Doch das ist kein Grund zur Brexit-Müdigkeit! Wichtig ist nur, dass das Vereinigte Königreich nicht ohne Vertrag aus der EU katapultiert wird. Am besten wäre es sowieso, die Briten würden einfach bleiben. Die nächsten Schritte müssten also lauten: Verlängerung, Rücktritt Boris Johnsons, Neuwahl und vielleicht doch noch ein zweites Referendum, um den historischen Irrtum des Brexit zu korrigieren.