Auf der Suche nach dem Grab des Vaters in der Ukraine

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Die Brüder Ulrich und Immo Gleiß können sich an ihren Vater nicht erinnern. Der Wehrmachtsoffizier starb 1943 im Krieg in der Ukraine. Nach vielen Jahrzehnten haben sie sich auf die Suche nach seinem Grab gemacht.

“Hoffentlich hat unser Vater nichts Schlimmes getan”, wiederholt der 77-jährige Ulrich Gleiß (im Artikelbild links) immer wieder. Er und sein zwei Jahre älterer Bruder Immo können sich an ihren Vater Georg Gleiß kaum erinnern. Der Wehrmachtsoffizier starb im September 1943 in der Ukraine. Seine Söhne waren damals ein und drei Jahre alt.

Die Brüder hatten sich schon lange vorgenommen, den Ort zu besuchen, an denen ihr Vater begraben liegt. Dass er am von Deutschland entfesselten Zweiten Weltkrieg beteiligt war, belastet sie. Die Männer sind auf dem Weg in die ukrainische Provinz, 300 Kilometer südöstlich von Kiew. Sie befürchten, dass dort niemand mit den Söhnen eines deutschen Offiziers wird sprechen wollen.

Tagebücher eines Wehrmachtoffiziers

Georg Gleiß wurde 1903 geboren. Vor dem Krieg arbeitete er als Lehrer, unterrichtete Französisch, Englisch und Sport. Seine Söhne haben noch vergilbte Briefe und Tagebucheinträge, die ihr Vater während des Kriegs schrieb. Daraus geht hervor, dass er als Gasabwehr-Offizier im Einsatz war. Von Kämpfen berichtete er nichts. Da er seiner Familie nicht schreiben durfte, wo er sich befand, verschlüsselte er die Ortsnamen. Sie ließen sich aus den Anfangsbuchstaben der Sätze zusammensetzen. Daher wissen seine Söhne, dass er in mehreren Orten war, die heute in Weißrussland, Russland und der Ukraine, liegen, darunter in Gomel, bei Woronesch und Krementschuk.

Georg Gleiß mit seiner Tochter Uta

In einem Brief berichtete er von dem Haus, in dem er zusammen mit seinem Fahrer und dem Offiziersburschen untergebracht war. Der Besitzer des Hauses, ein Weißrusse, war auch Lehrer, seine Frau stammte aus der Westukraine. Der älteste ihrer drei Söhne kämpfte mit 21 Jahren gegen Deutschland. Dem Brief des Offiziers zufolge war die Familie anfangs zurückhaltend, doch ihr Verhältnis verbesserte sich schnell.

Auf der Rückseite eines weiteren mit Bleistift beschriebenen Blatt Papiers steht mit großen Buchstaben ein Befehl: “Alle im Dorf Schubnoje lebenden Personen ab 16 Jahren haben sich am Mittwoch, dem 7. November, um 6:15 Uhr auf dem Kirchplatz einzufinden. Jeder muss seinen Pass mitbringen. Die Missachtung des Befehls wird hart bestraft!” Ulrich Gleiß sagt traurig: “Es ist klar, dass die Menschen nicht einfach so aufgefordert wurden, sich zu versammeln.” Ob sein Vater den Befehl in dem Dorf im Gebiet Woronesch gab, und was mit den Menschen später geschah, weiß er nicht.

Suche nach Gräbern von deutschen Soldaten

Im September 1943 erhielt Familie Gleiß Nachricht vom Tod des Vaters. Einem späteren Brief eines Kameraden von Georg Gleiß war eine Karte des Gebiets beigelegt. Auf ihr war das Grab eingezeichnet – rund 50 Meter westlich eines Ortes mit dem Namen Krasnoje (Name zum Schutz vor Plünderern geändert – d. Red.). Dem Brief lagen auch Fotos von der Beerdigung bei. Darauf war ein Holzkreuz zu sehen; ein General hielt eine Rede. Auf heutigen Landkarten ist das Dorf nicht verzeichnet.

Das seien schon viele Hinweise, meint Aleksej Sawtschenko vom Büro des Volksbunds Deutsche Kriegsgräberfürsorge im Osten der Ukraine. Zusammen mit den Gleiß-Brüdern begibt er sich auf die Suche. Die Massengräber deutscher Soldaten in der Ukraine, sagt er, seien gut dokumentiert. Inzwischen werde meist nach Einzelgräbern gesucht oder nach solchen, in denen mehrere Menschen begraben liegen. Aber die Suche sei schwierig, weil es darüber in Archiven kaum Informationen gebe und fast alle Zeugen verstorben seien.

Die Gleiß-Brüder und Aleksej Sawtschenko (r.) treffen Menschen vor Ort

Der Ort, an dem sich Krasnoje befunden haben soll, kann anhand umliegender Dörfer bestimmt werden, die ebenfalls auf der alten deutschen Karte eingezeichnet sind. Die Gegend wirkt einsam. Beeindruckt von der Landschaft, von den Maisfeldern und dem endlosen Himmel, steigen Ulrich und Immo Gleiß aus dem Auto. Sie fotografieren einen verlassenen Brunnen und Gänse in einem Teich, als eine Frau mittleren Alters vorbeikommt. Mit einer Hand schiebt sie ihr Fahrrad, mit der anderen führt sie eine Kuh an einer Leine. Von einem Dorf Krasnoje weiß sie nichts. Alte Menschen, die noch etwas wissen könnten, gebe es auch keine mehr, sagt sie.

Maisfelder im Osten der Ukraine

Wo der Karte nach Krasnoje hätte sein müssen, liegt ein Friedhof – ein neuer. Dort werden erst seit den späten 1980er Jahren Menschen beigesetzt. Während die deutschen Rentner noch die Karte studieren, hält ein altes Motorrad mit Beiwagen an. Der Fahrer weiß auch nichts über Krasnoje. Er wohne erst seit 20 Jahren hier. Doch er ruft den “Vorsitzenden” an, den Leiter der örtlichen Verwaltung. Vielleicht kann er helfen.

Die Gäste aus Deutschland treffen auf Hilfsbereitschaft

Unterstützung der Menschen vor Ort

Der “Vorsitzende” erweist sich als großer Mann von etwa 50 Jahren; er heißt Anatolij. Er setzt sich mit den Gleiß-Brüdern in seinen kirschroten Lada und unternimmt mit ihnen eine spontane Tour. “Hier ist eine zugewachsene Lehmgrube einer ehemaligen Ziegelei. Wenn es Erschießungen gab, dann sicher hier. Und das ist ein Stausee. Hier soll ein deutscher Panzer versunken sein. Das hier ist der Bahnhof. Wenn Euer Vater in dieser Gegend war, dann mit Sicherheit auch hier”, sagt Anatolij.

Dann ruft er Bekannte an und fragt sie, ob sie etwas über einen deutschen Offizier wüssten, der hier umgekommen sein soll. So kommen nach und nach Einzelheiten über das Leben und den Tod von Georg Gleiß an den Tag.

Besatzung durch deutsche Truppen

Wie sich herausstellte, war “Krasnoje” der Name einer Kolchose, der die Dörfer Beresowka und Derkatschi (Namen geändert – d. Red.) angehörten. Deshalb war “Krasnoje” auf der Wehrmachts-Karte genau zwischen den beiden Dörfern eingezeichnet. Während des Krieges war das Gebiet von den Deutschen besetzt. Einheimische sagen, zu Beginn der Besatzungszeit seien zwei Männer erschossen worden, weil sie geprahlt hätten, sowjetische Partisanen zu sein. Ulrich und Immo Gleiß wollen das Grab der Männer sehen. Es liegt leicht abseits der Straße, darüber steht ein kleiner grauer Obelisk.

Den Erzählungen nach haben die Deutschen hier keine massenhaften Strafaktionen durchgeführt. Doch sie hatten die Menschen gezwungen, fruchtbare Schwarzerde zu verladen, die dann nach Deutschland gebracht wurde.

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