Mein Europa: Apollonia 2019

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Vielleicht ist Stagnation nicht immer gleich eine Katastrophe, sondern hat manchmal auch ihre guten, beruhigenden Seiten. Auch das ist irgendwie sinnbildlich für Europa im Jahr 2019.

Christopher Nehring: Stagnation ist nicht immer gleich eine Katastrophe

In dem alten Fischerdorf Sozopol an der bulgarischen Schwarzmeerküste gibt es eine kleine Uferstraße, vorbei an allen Strandbars und Restaurants. Kurz hinter dem alten Stadttor, oberhalb einer Einbuchtung gelegen, stehen zwei Bänke unter einem uralten, riesigen Feigenbaum. Im Schatten des Baumes erstreckt sich der Blick auf die Bucht von Sozopol, zu der eine Steintreppe hinunterführt.

Vor zehn Jahren, im September 2009, saß ich zuletzt auf dieser Bank. Damals, Bulgarien war gerade frisch in der EU, besuchte ich zum ersten Mal das Apollonia-Kulturfestival, das jährlich in der ersten Septemberwoche in dem beliebten Ferienort veranstaltet wird. Nun, 10 Jahre später, kam ich zurück nach Sozopol und zu Apollonia, sitze unter demselben Feigenbaum und grüble darüber, was sich seitdem verändert hat. Oder auch nicht. Und darüber, was das für die Idee Europa bedeuten könnte.

Ein Namenspatron und sein Erbe

Strandurlaub und Kulturfestival – manchmal ist die Basis einer guten Idee sehr einfach. Das dachte sich auch eine Reihe bulgarischer Künstler, als sie 1984, noch zu Zeiten des Kalten Krieges, das nach dem griechischen Gott der Künste Apollon benannte Festival in der kleinen Altstadt von Sozopol, 30 Minuten südlich der Hafenstadt Burgas und rund 1 Stunde nördlich der türkischen Grenze, ins Leben riefen. Seitdem umfasst Apollonia alle Formen künstlerischen Schaffens, von Malerei, Tanz, Theater, Film zu Klassik, Jazz und bulgarischer Volksmusik. 2019 also galt es das 35jährige Bestehen des Festivals zu feiern. 35 Jahre, sechs davon unter dem kommunistischen Regime und die letzten 10 als stolzes EU-Mitgliedsland.

Schon der Namenspatron verwies – zu Zeiten, als die bulgarischen Kommunisten in den 1980er Jahren die Mobilisierungskraft eines ethnozentrischen Nationalismus für sich zu nutzen suchten – auf ein gesamteuropäisches kulturelles Erbe der griechisch-römischen Antike. Ein griechisch-römischer Name und ein Inhalt, der mit bulgarischer Kultur gefüllt werden sollte. Ob nationale Kultur unter gesamteuropäischem Erbe von den Gründern als Widerspruch, als stiller Protest gegen die Abschottungspolitik des Sozialistischen Lagers oder aber als Ausdruck einer “Einheit in der Vielfalt”, wie es das heutige EU-Motto ist, gedacht wurde, ist nicht überliefert. Vielleicht war es ein bisschen was von allem.

“Apollonia – das bulgarische Festival!”

Unter diesen Vorzeichen startete Apollonia 1984, als Europa durch den Eisernen Vorhang noch streng geteilt war. Dabei waren die Touristenzentren am Schwarzen Meer ohnehin schon seit den 1960er Jahren eine gesamteuropäische Begegnungsstätte. Unter Sonnenschirmen und bei Bier, frittierten Sprotten und dem obligatorischen Schopska-Salat (Tomaten, Gurken, Weißkäse) kamen schon damals Europäer aus Ost und West, Nord und Süd zusammen.

Die Küste vor Sozopol – eine europäische Begegnungsstätte am Schwarzen Meer

Trotzdem blieb und bleibt Apollonia in erster Linie ein nationales, bulgarisches Kulturfestival. Auch heute, zum 35. Geburtstag, endet der Ankündigungstext der Veranstaltungshomepage mit der Deklamation: “Apollonia – das bulgarische Festival!”. Ausländische Künstler kamen erst nach und nach auf die Bühnen, ausländische Besucher der meisten Veranstaltungen kann man auch heute noch an zwei Händen abzählen. Die Sprache Apollonias ist monolingual Bulgarisch, Übersetzungen oder Untertitel gibt es nicht. Theater, Belletristik, Film und Gesang sind so ausschließlich mit bulgarischen Künstlern besetzt. Darunter mitunter so prominente Namen wie der vielfach übersetze Schriftsteller und Dramaturg Georgi Gospodinov. Internationale Gäste sind vornehmlich in den Sparten Instrumental-Musik und Malerei, also den non-verbalen Künsten vertreten. 2019 waren es zum Beispiel der argentinische Tango-Meister Mattias Gonzalez aus Argentinien oder die Dixieland-Band der US Army in Europa.

“Music and Love” 

Beide verpasste ich geflissentlich, stattdessen standen zwei Theaterbesuche (beide vom Sofioter “Kleinen Städtischen Theater hinter dem Kanal” / “Malak Gradski Teatar zad Kanal”) und zwei Konzerte (Jazz-Piano und Klassik-Violoncello) auf dem Programm. Beide Theaterstücke entpuppten sich als tiefe Enttäuschung, die meine Sitznachbarin als “uninspiriertes, vulgäres Gekreische” umschrieb. Beide Konzerte, die in der Atmosphäre des archäologischen Museums der Stadt abgehalten wurden, waren hingegen ein wahrer Genuss. Angesprochen auf den europäischen Geist von Apollonia antwortete der Jazz-Pianist Zhivko Petrov kurz und klar mit: “Music and Love”. Obgleich es auch schon tiefere Gedanken zur europäischen Idee gab, war es immerhin ein Ansatz. Die Sprache der Musik scheint – für alle, bulgarische wie internationale Gäste – 2019 eine deutlich klarere Botschaft zu vermitteln als jedes Gespräch.

Kurz vor der Abreise mit dem Bus nach Burgas, der immer noch dieselben 5 Lewa (umgerechnet rund 2,50 Euro) kostet wie vor 10 Jahren, sitze ich noch einmal auf derselben Bank unter demselben Feigenbaum. Groß und deutlich weist ein Schild darauf hin, dass auch dieser Ort im Zuge eines bulgarisch-türkischen Infrastrukturprojekts mit EU-Geldern erneuert wurde. Auch hier ein gesamteuropäisches Label über einem nationalen Inhalt – und wieder ein Spiegel für den Zustand Europas.

Apollonia ist vorüber, eine spezielle europäische Dimension des sehr bulgarischen Festivals konnte ich nicht finden und ich fühle mich in Sozopol weder mehr, noch weniger europäisch als vor 10 Jahren. Vielleicht ein Sinnbild für die Stagnation der europäischen Idee, denke ich. Dann beiße ich in dieselben leckeren frittierten Sprotten, trinke dasselbe fade bulgarische Bier und schaue auf dasselbe wunderschöne Meer. Vielleicht ist also Stagnation nicht immer gleich eine Katastrophe, sondern hat manchmal auch ihre guten, beruhigenden Seiten. Auch das ist irgendwie sinnbildlich für Europa im Jahr 2019.

Christopher Nehring, geb. 1984, ist wissenschaftlicher Leiter im Deutschen Spionagemuseum Berlin. Er hat Osteuropäische und Neuere Geschichte in Heidelberg und St. Petersburg studiert und 2016 zu einem Thema der Geheimdienstgeschichte promoviert. Sein neuestes Bucht ist “Die 77 grössten Spionage-Mythen”, erschienen bei Heyne, München, 2019.