Thomas Cook – von der Geschichte des Reisens

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Die Pleite des Reisekonzerns Thomas Cook markiert nicht das Ende des Massentourismus. Aber sie ist ein “Menetekel”, wie der Tourismusforscher Hasso Spode meint – und wie der Blick in die Geschichte des Reisens nahelegt.

Kilometerlange Staus auf den Autobahnen und endlose Schlangen vor den Abflugschaltern der Flughäfen – so sehen in Deutschland die Sommerferien aus. Doch vermutlich waren Pilger die ersten “echten” Reisenden. Zwischen den frühen Wanderungen zu den Tempeln der Gottheiten im Alten Ägypten bis zum Massentourismus unserer Tage liegen einige Tausend Jahre. Geändert haben sich seither Reiseziele, die Art des Reisens und natürlich der Reisezweck. Heute macht der Pauschaltourismus, für den Thomas Cook stand, noch immer 40-50 Prozent des Reiseaufkommens aus, schätzt Hasso Spode, der das Historische Archiv zum Tourismus an der Technischen Universität Berlin leitet. “Aber der Zenit ist überschritten!”

“Alle Welt reist!”, kommentierte der Schriftsteller Theodor Fontane (1819 bis 1898) einst die Reiselust seiner deutschen Landsleute. Das Zitat gilt noch heute, dabei ist Urlaub als “bezahlte Freizeit zum Zwecke der Erholung” eine europäische Erfindung aus der Zeit der Industrialisierung. Das deutsche Kaiserreich wollte seine Beamtenschaft entlasten.

Relaxen im Urlaub

Urlaub für die Arbeiterschaft war zunächst kein Thema. Erst in der Weimarer Republik gab es für Arbeitnehmer tarifliche Urlaubsregelungen. Nach dem Zweiten Weltkrieg stehen jedem Arbeitnehmer anfangs zwei, seit den 1960er Jahren drei Wochen Urlaub pro Jahr zu.

Was unterscheidet einen Reisenden vom Touristen? “Der Tourismus ist eine Reise ohne einen eigentlichen Zweck”, meint der Tourismusforscher. In früheren Jahrhunderten verfolgten Reisende stets eine Mission. “Die Pilger wollten zum Beispiel Seelenheil finden, die Eroberer erobern”, so Hasso Spode. Im 18. Jahrhundert begann man dagegen, aus Spaß zu verreisen.

Thomas Cook: Urlaubsreisen für die Massen

So schlägt Mitte des 19. Jahrhunderts – dank der Ausbreitung der Eisenbahn – die Geburtsstunde des “Pauschaltourismus”. Im Juli 1881 organisiert der Engländer Thomas Cook eine erste Eisenbahnreise von 570 Aktivisten der Abstinenzbewegung von Leicester ins nahegelegene Loughborough. Die Bahnfahrt im offenen Waggon der 3. Klasse ohne Sitzgelegenheit kostet einen Schilling pro Person, dient aber nicht zum Geldverdienen. Der Laienprediger Cook will vielmehr die Menschen aus der Kneipe lotsen, weg von der Ginflasche – “Menschen mit Menschen und Menschen mit Gott verbinden”, war sein Motto. Im Reisepreis enthalten war übrigens auch ein Schinkenbrot und eine Tasse Tee.

Hasso Spode

Auch in Deutschland entsteht eine Art Sozialtourismus, organisiert von Wohltätigkeitsvereinen und Gewerkschaften. Der Arbeiterwanderbund “Naturfreunde” etwa bietet Wandertouren für Arbeiter an. “Immer wieder lebt in unserem Volke das Streben auf, dem Staub und der Enge der Großstadt und der freudlosen Arbeit auf kurze Zeit zu entfliehen”, heißt es in einem Aufruf des Vereins an die “Genossen, Naturfreunde, Arbeiterwanderer!” von 1895, “das Ränzel auf dem  Rücken, den Wanderstab in der Hand, zu Fuß das Land zu durchstreifen, um Natur und Land und Volk in unmittelbarer Anschauung kennen zu lernen.”

Bald erkennen auch die Nationalsozialisten die politische Bedeutung des Urlaubs, wie ein Ausspruch von Adolf Hitler zeigt: “Ich will, dass dem Arbeiter ein ausreichender Urlaub gewährt wird, denn nur allein mit einem Volk, das seine Nerven behält, kann man wahrhaft große Politik machen.” Fast 43 Millionen Reisen veranstaltet die 1933 von den Nazis gegründete Freizeitorganisation “Kraft durch Freude” (KdF). Propagandabilder der KdF zeigen Deutsche, die sich entspannt auf den Liegestühlen der eleganten Kreuzfahrtschiffe räkeln. Bei Kriegsbeginn ist Schluss mit dem KdF-Tourismus. “Die Nazis hatten die Kontrolle über die Freizeitgestaltung der Bürger”, sagt Historiker Spode. Die Hinterlassenschaft kann man noch heute auf Rügen besichtigen – der Koloss von Prora, seinerzeit auch “KdF-Bad der Zwanzigtausend” genannt, sollte das größte Seebad der Welt werden. Doch der Beginn des Zweiten Weltkrieges 1939 verhindert die Fertigstellung.

“Bella Italia” und Spanien als “Teutonengrill”

Touristen aus der Vogelperspektive

Mit dem bundesdeutschen Wirtschaftswunder der 1950er Jahre wächst die Reisekasse und damit die Reiselust der Deutschen. “So langsam wagte man sich mit dem Käfer oder auch der Vespa über die Alpen”, beschreibt Spode den Nachkriegstourismus. Per Auto geht es nun ganz individuell auf Reisen. Bis Ende der 1960er verdoppelt sich das Durchschnittseinkommen, häufig kommt Urlaubsgeld hinzu. “Langsam entsteht der Massentourismus”, sagt Dr. Sina Fabian, Historikerin und Kulturwissenschaftlerin an der HU Berlin, “man bucht bei einem Reiseveranstalter und organisiert das eben nicht selbst.” Reiseangebote für den Pauschaltourismus werden entwickelt, das Reisen wird billiger, der Massentourismus entsteht. Soziologe Spode spricht von einer “Demokratisierung des Reisens”.

Auch das beflügelt den Tourismus: Große Passagierjets transportieren seit den 1970er Jahren immer mehr Deutsche aller Einkommensschichten in die Ferne. Das spanische Mallorca erhält den Beinamen “Putzfraueninsel”. Strände rund um das Mittelmeer, an denen sich überwiegend Deutsche in der Sonne aalen, werden als “Teutonengrill” bekannt. Steigende Löhne und niedrige Urlaubspreise machen es möglich – den Urlaub für jedermann.

Strandkörbe am Ostseestrand

Den gibt es derweil auch im zweiten deutschen Staat, der Deutschen Demokratischen Republik. “In der DDR gab es einen subventionierten Sozialtourismus”, so Spode. Allerdings versuchte der Staat auch hier, ähnlich wie im Nationalsozialismus, den Urlaub seiner Bürger zu kontrollieren. Der Feriendienst des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes wird der wichtigste Reiseanbieter, er untersteht der Einheitspartei der DDR, der SED. Zwar kann fast jeder DDR-Bürger in den Urlaub fahren. Doch die Wahl des Urlaubslandes ist keineswegs frei. Wer nicht in der DDR bleibt, darf nur in sozialistische Bruderländer fahren – nach Ungarn, in die Tschechoslowakei oder nach Polen. Erst mit dem Fall der Mauer 1989 können es die Ostdeutschen den Westdeutschen gleichtun und im Urlaub die Welt erkunden. “Reisefreiheit” wird zum Wort des Wendejahres 1989.

Fernreisen: Entspannen auf den Malediven

“Der Tourist zerstört, was er sucht, in dem Moment, wo er es findet”, schreibt Hans Magnus Enzensberger schon 1957. Die Rede ist von Massen, von Horden, die jetzt in Urlaub fahren. Inzwischen aber haben der Tourismus und seine Probleme ganz neue Dimensionen erreicht: Klassische Urlaubsländer wie Griechenland, Frankreich, Portugal oder Spanien werden jährlich von mehr Fremden besucht, als sie Einwohner haben, ganze Dörfer werden zu “Menschenzoos”, Touristeneinrichtungen verdrängen die einheimische Bevölkerung, die Umwelt nimmt irreparabel Schaden.

Zur Geschichte des Reisens gehört auch die Digitalisierung. Ob Flug, Hotel, Bahnkarte, Restaurant – alles lässt sich heute am heimischen PC buchen. “Individualisierung der Reiseplanung” nennt Tourismusforscher Hasso Spode den Megatrend, der nicht nur die Reisebürobranche “ins Trudeln” gebracht habe. Auch der insolvente Reisekonzern Thomas Cook kann davon ein Lied singen. “Wäre das ganze Jahr über Urlaub”, soll der britische Dichter William Shakespeare (1564 – 1616) einmal gesagt haben, “wäre das Vergnügen so langweilig wie die Arbeit.” Von Langeweile kann nach der Pleite des britischen Reisekonzerns Thomas Cook keine Rede sein.