Tiefe Kluft durchzieht Japans Atompolitik

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Das AKW Fukushima braucht mehr Platz für die Lagerung von Kühlwasser. Betreiber Tepco will es ins Meer leiten, was bisher politisch nicht möglich war. Nun geht Premierminister Abe einen neuen Weg. Martin Fritz aus Tokio.

Knapp ein Jahr vor den Olympischen Spielen 2020 in Tokio gerät das zerstörte Atomkraftwerk Fukushima Daiichi wieder in die Schlagzeilen und bringt Japans Regierung in eine Zwickmühle. Denn Betreiber Tepco stellte ihr ein Ultimatum, das drängendste Problem bei der Stilllegung der Atomruinen endlich zu lösen. Die Speicherkapazität für verstrahltes Kühlwasser sei spätestens in drei Jahren erschöpft, stellte Tepco Anfang August klar und setzte sich für das Einleiten des Wassers in den Pazifik ein. Alle anderen Lösungen seien “schwierig”, sagte Tepco. Den gleichen Standpunkt vertrat danach der bisherige Umweltminister Yoshiaki Harada.

Doch das Ultimatum wird die Regierung vorerst nicht zum Handeln bringen. Denn bei der Olympiavergabe im September 2013 hatte Premierminister Shinzo Abe, damals schon im Amt, den Zuschlag für Tokio auch aufgrund seiner Aussage erhalten, die Atomruinen in Fukushima seien unter Kontrolle. Bei einem AKW-Besuch im Juni dieses Jahres stellte sich Abe ohne Schutzkleidung vor die kaputten Reaktorblöcke und wiederholte, die Katastrophe sei “unter Kontrolle”. Daher könnte er eine Einleitung des Wassers vor den Spielen kaum erklären. Dann käme es sofort zu einer Debatte über die Gesundheit vieler Athleten, etwa der Surfer, die in Tsurigasaki am Pazifik 250 Kilometer südlich des AKW Fukushima um Medaillen kämpfen.

(Archiv) Tepco-Arbeiter gehen an riesige Wassertanks vorbei

Seit acht Jahren gleiches Problem

Das Kühlwasser lässt sich als ein Symptom für die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit in Japans Atompolitik verstehen. Offiziell kommt die AKW-Stilllegung voran, doch Tepco kämpft seit den Kernschmelzen vor über acht Jahren immer noch mit demselben Problem: Grundwasser sickert in die Untergeschosse der Reaktoren ein und wird radioaktiv kontaminiert. Nur die Wassermenge schrumpfte durch eine Eismauer im Boden und andere Maßnahmen auf täglich 150 Kubikmeter. Auch filtert eine Anlage radioaktive Substanzen aus dem Wasser heraus. Doch es bleibt Tritium übrig, ein strahlendes Isotop von Wasserstoff. Aus diesem Grund konnte Tepco die Fischer der Region bisher nicht vom Einleiten überzeugen, so dass sich nun 1,1 Millionen Kubikmeter Kühlwasser in über 1000 Tanks angesammelt haben.

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Nach Fukushima will Tepco ein neues Kraftwerk anwerfen

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Nach Fukushima will Tepco ein neues Kraftwerk anwerfen

Eine Kluft zwischen Plan und Realität existiert auch in der Energiepolitik. Die konservative Regierung will den Anteil der Atomkraft am Strommix bis 2030 auf 20 bis 22 Prozent steigern, damit Japan seine Klimaziele einhalten kann. Der Inselstaat kann im Gegensatz zu Europa nicht mit den Nachbarländern Energiehandel betreiben. Die Meiler, die kein Kohlendioxid ausstoßen, sollen die starke Nutzung von Kohle als Energieträger ausgleichen. Dafür müssten etwa 30 Atomkraftwerke laufen, derzeit sind es jedoch nur sechs.

Shinzo Abe als Super Mario auf der Abschlussfeier der Olympischen Spiele 2016 in Rio

“Die japanische Regierung unterstützt die Atomkraft als zentrale Komponente einer kohlendioxidneutralen Energiepolitik”, erläutert der Ökonom Martin Schulz vom Fujitsu-Forschungsinstitut in Tokio. “Nach der Fukushima- Katastrophe deckt sich dies jedoch nicht mehr mit der Realität regionaler Widerstände und der zunehmenden Stilllegung alter Reaktoren.” Das endgültige Aus ereilte bereits 24 Anlagen, während nur 15 Meiler von der Atomaufsicht eine neue Betriebslizenz erhielten. Jedoch droht vier der neun Reaktoren, die inzwischen neu gestartet wurden, im nächsten Jahr schon wieder die Abschaltung, weil die Betreiber die notwendigen Maßnahmen gegen einen Terrorangriff nicht ergriffen haben.

Jungpolitiker mit Vertrauenskapital

In dieser komplexen Lage hat Premierminister Abe vergangene Woche den Jungpolitiker Shinjiro Koizumi  als Umweltminister und Staatsminister für Atomkraft-Katastrophenschutz in sein umgebildetes Kabinett berufen. Damit ist der populäre Sohn des früheren Premierministers Junichiro Koizumi für die Atomaufsichtsbehörde und die Wasserfrage zuständig. Koizumi habe einen “Kelch mit radioaktivem Wasser” erhalten, schrieb die Financial Times nach seiner Ernennung. Denn Regierungschef Abe hat den Schachzug gut kalkuliert. Koizumi genießt – anders als Atomkraftfreund Abe und AKW-Betreiber Tepco – in Fukushima viel Vertrauen, das er sich durch zahlreiche Besuche als früherer Staatsminister für den Wiederaufbau erworben hat. Seine Frau Christel Takigawa brachte zudem einen adoptierten Golden Retriever aus Fukushima mit in die im August geschlossene Ehe. Mit diesem Vertrauenskapital soll Koizumi offenbar die Einleitung des Kühlwassers in den Pazifik durchsetzen.

Der neue Umweltminister Shinjiro Koizumi und seine Frau Christel Takigawa

Der 38-Jährige machte sich mit einem Antrittsbesuch bei Fukushima-Gouverneur Masao Uchibori gleich ans Werk. “Ich muss Beziehungen zur Bevölkerung in Fukushima aufbauen und auf dieser Grundlage Fortschritte erzielen”, sagte Koizumi, ohne seine eigene Position zum Kühlwasser zu präzisieren. Zugleich signalisierte er bei seiner Antrittspressekonferenz eine kritische Haltung zur Atomkraft. Er möchte weiter darüber nachdenken, wie man alle Atomkraftwerke loswerden und nicht, wie man sie behalten könne, sagte Koizumi geschickt. “Wir werden verloren sein, wenn wir uns einen weiteren Atomunfall erlauben.” Damit erhöhte er seine Glaubwürdigkeit bei den Atomkraftkritikern, ohne sich direkt gegen Premier Abe zu stellen.

“Der neue Umweltminister braucht die regionale Unterstützung zur Lösung der Probleme von Fukushima”, kommentiert Ökonom Schulz die Äußerungen von Koizumi. “Daher nähert sich seine Position den Bedenken gegenüber der Atomkraft in den betroffenen Regionen an.” Dabei dürfte dem jungen Koizumi helfen, dass sein ebenfalls beliebter Vater sich nach dem Fukushima-Unfall zu einem lautstarken Gegner der Atomkraft gemausert hat. Unter welchen Umständen das Kühlwasser eingeleitet werden könnte, bleibt vorläufig offen. Letztlich dürfte sich die Regierung auf eine Gruppe von Experten berufen, die dazu Vorschläge erarbeiten sollen.