Fiume: Gabriele D’Annunzio und die Kommune der Faschisten

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Der italienische Dichter Gabriele D’Annunzio besetzte vor 100 Jahren die kroatische Hafenstadt Rijeka. Warum das nicht politisch war, sondern die Fortsetzung von Poesie, erklärt Autor Kersten Knipp.

Gabriele D’Annunzio (rechts mit Stock) in Fiume im Oktober 1919

Nach dem Ersten Weltkrieg fielen aufgrund des Londoner Abkommens von 1915 Teile Kroatiens an Italien als eine der Siegermächte. Rijeka, damals auch italienisch Fiume genannt, gehörte nicht dazu. Gabriele D’Annunzio aber, futuristischer Dichter, politischer Aktivist und Kriegsheld, der dem späteren faschistischen Diktator Benito Mussolini politisch und persönlich nahe stand, war der Meinung, dass Rijeka/Fiume selbstverständlich zu Italien gehören solle. Am 12. September 1919 marschierte er mit seinen Unterstützern in die Stadt ein und rief dort die “Republik Fiume” aus. Er wurde begeistert begrüßt von vielen dort lebenden Italienern. 

Zum 100. Jahrestag des Einmarsches sprachen wir mit Kersten Knipp, der die Ereignisse von damals in seinem Buch “Die Kommune der Faschisten. Gabriele D’Annunzio, die Republik von Fiume und die Extreme des 20. Jahrhunderts” eingehend analysiert hat. 

Deutsche Welle: Herr Knipp, wie entstand die Idee, in Fiume einzumarschieren und die Stadt Italien anzuschließen?

Kersten Knipp

Kersten Knipp:Die Regierung in Rom hatte an Fiume gar kein Interesse, aber viele Nationalisten wollten, dass die Stadt zu Italien gehört. Fiume hatte sich für sie zu einer Art Symbol entwickelt. Gabriele D’Annunzio hatte für dieses Begehren ein eigenes Wort geprägt, nämlich “vittoria mutilata”, “der verstümmelte Sieg”.

Das heißt, wenn Fiume kein Teil Italiens geworden wäre, wäre der Sieg völlig sinnlos gewesen und Hunderttausende von Italienern umsonst gestorben. Eine bizarre Idee natürlich, aber eine, die unter den Nationalisten, auch bei Mussolini und den damals sich langsam formierenden Faschisten, großen Anklang fand.

Dabei ist wichtig zu wissen, dass an jedem Tag des Ersten Weltkriegs 6000 Menschen gestorben sind. Tag für Tag über vier Jahre lang. Fast jede Familie in Europa hatte Opfer zu beklagen und man wollte natürlich einen Sinn in dieses Sterben legen. Und ein Sinn war ja: “Wenigstens vergrößern wir unser Territorium.”

Ein anderer Grund ist vielleicht auch, dass sehr viele ehemalige Soldaten, die sich in großer Zahl Gabriele D’Annunzio angeschlossen hatten, nach dem Krieg aus den sozialen Bezügen gefallen sind. Sie haben gekämpft, sie waren Gewalt gewohnt. Es war schwierig für sie, in die Zivilisation zurückzukommen. Fiume war dann ein Versuch, weiter in einem nicht-bürgerlichen Raum zu leben, wo etwas Neues entsteht, etwas Utopisches, politisch aber völlig sinnlos.

D’Annunzio war begeisterter Soldat im Ersten Weltkrieg und oft als Pilot im Einsatz

Der Mann der sie anführte, und der dann letztendlich als großer Erlöser auf dem Balkon des Gouverneurspalastes in Rijeka stand, Gabriele D’Annunzio, war eine schillernde Figur…

Er ist einer der ersten literarischen Superstars in Italien, aber auch in Europa. Er hat von Anfang an konsequent dafür gekämpft, berühmt zu werden.

Er war sehr gebildet, hat immer auch die neueste europäische Literatur, insbesondere die französische, gekannt. Er war ein bekannter Journalist und Dichter. Nach der Jahrhundertwende hat er sich dem neu entstehenden Futurismus angeschlossen. Und dort war das Thema der Gewalt ganz groß. Gewalt als eine Möglichkeit, die Vergangenheit hinter sich zu lassen.

Italien, so sahen es die Futuristen, war in der Vergangenheit versunken, in das antike Erbe des Roms der Renaissance. Sie sahen Italien im Grunde als ein Museum, einen Speicher der Vergangenheit.

Das erblindete Auge wurde zum Wiedererkennungsmerkmal D’Annunzios

Sie entwickelten einen Kult der Gewalt, mit der man sich mit einem Schlag lossagen konnte von dem alten Italien. Und das ist dann übergegangen in eine Kultur des Krieges. Die Futuristen waren ja für den Krieg, D’Annunzio auch, und im Krieg hat sich das fortgesetzt.

D’Annunzio saß sehr viel im Flugzeug, hat bei einem dieser Flüge das Licht auf einem Auge verloren. Das war dann das Authentizitätszeichen eines Helden. Er ist literarisch ein Star und er ist ein Kriegsheld und insofern ist er geeignet aus Sicht all derer, die dieses Unternehmen Fiume starten wollten, sich an die Spitze zu setzen und zu sagen: “Wir sind da!”

War dieses Projekt, Fiume nach Italien zu holen, eher ein künstlerisches oder ein politisches Projekt?

D’Annunzio sah darin ein politisches Projekt. Meine These ist aber, dass das von Anfang an überhaupt nichts mit Politik zu tun hatte. Denn von der Politik muss man verlangen, dass man realistisch agiert. Und das Projekt Fiume war von Anfang an unrealistisch. Für D’Annunzio war das die Fortsetzung der Poesie mit politischen Mitteln, oder pseudo-politischen Mitteln, besser gesagt.

Das Projekt war allerdings von Anfang an aussichtslos. Mussolini hat das erkannt und sich sehr früh aus diesem Projekt verabschiedet. D’Annunzio wollte davon nichts wissen. Er fängt also an, Aufmärsche zu veranstalten, Reden vom Balkon zu halten, es gab viel Musik, man trug Uniformen… es etablierte sich da ein Männlichkeitskult, der militärische Kult. Sie haben eigene Abzeichen entworfen, auch eine eigene Münze.

All das wird über Monate exerziert, vor allem, um die Leute bei Laune zu halten. Sie müssen ja irgendetwas tun. Und so wird 15 Monate lang Tag für Tag ein pseudo-politischer Aktionismus gelebt. 

Es sind auch viele Frauen da, das Ganze hat sehr viel mit Sex, mit ausschweifender Sexualität zu tun. Es sind Drogen im Spiel, auch Homosexualität – also all das, was dem Leben eine Intensität gibt, wird dort praktiziert.

Politisch ist dort alles vertreten. Ästhetisch, aber nicht direkt politisch, ist das eine Vorwegnahme des Faschismus. Es sind aber auch Sozialisten da, Anarchisten, alle politischen Strömungen. Das zeigt, dass es nie darum ging, wirklich ein Ziel politisch durch eine Massenbewegung, wie es Mussolini danach tat, zu erreichen. Sondern alles ist möglich, und wo alles möglich ist, wird letztlich nichts wirklich politisch.

Mussolini und D’Annunzio 1936 – Freunde auch nach dem Aus des Projektes Fiume

Sehr vielen Menschen hat das gut gefallen, die fanden das liberal, was dort möglich ist. Sie haben keinen großen Grund, etwas gegen D’Annunzio zu sagen, weil er einfach kein Diktator ist, wie später Mussolini, Hitler oder Stalin. Er lässt alles geschehen und das gefällt den Leuten. Das macht den spezifischen Zauber auch von außen aus. Und es ist auch eine Vorwegnahme von 1968 (gemeint ist die 68er-Bewegung, Anm. d. Red.).

Der Titel Ihres Buches lautet “Kommune der Faschisten”. Aber die Besatzer von Fiume waren gar keine Faschisten in dem Sinne, wie wir das heute verstehen?

D’Annunzio und Mussolini haben sich vorher getroffen, sie waren sich zunächst einig über das Projekt Fiume. Sie hatten eine gewisse Nähe zueinander, geprägt durch den Krieg.

D’Annunzio und seine Anhänger waren eine kriegsaffine Gesellschaft und die hatte ja Mussolini auch. Seine Schwarzhemden stammen aus dem gleichen kriegerischen Milieu. Da herrschte ein Kult der Brutalität. D’Annunzio selbst war nicht brutal, er war ein feinsinniger Dichter. Aber die Anhänger teilweise schon.

Und dann war da auch die Frage der Ästhetik. D’Annunzio hat sich später sehr deutlich distanziert von Mussolinis Faschismus. Sie sind weiter Freunde geblieben, aber politisch hat er Distanz geschaffen. Er hat gesagt, wenn das so weitergeht, wird ein Tag kommen, an dem sie Bücher verbrennen. Da wollte er als Dichter nicht mitmachen.

Aber alles andere, der Kult der Gewalt und die Hingabe an große ästhetische Formen, die Aufmärsche und Ähnliches, das ist zum ersten Mal in Fiume entwickelt worden und später hat das Mussolini inspiriert. Er hat gesehen, dass das in Fiume funktioniert, auch die Reden und die Verzauberung der Menge, das massenpsychologische Moment, und hat es nachher übernommen und verfeinert.

Aufmarsch in Uniform: D’Annunzio (vorne Mitte) etablierte einen militärischen Kult in Fiume

Inwieweit war Fiume eine “Übung” für das, was im späteren 20. Jahrhundert geschah?

Über weite Teile des 20. Jahrhunderts hatten wir diese Massenpolitik alten Stils, ganz besonders sichtbar in den Totalitarismen des Kommunismus, Faschismus und Nazismus. Hierbei waren riesige organisierte Massen auf den Plätzen, die genau aufeinander orchestriert waren. Fiume war eine ästhetische Vorwegnahme dessen. 

Man kann auch sehen, wie in Fiume verschiedene Lebenswelten, allerdings unter anderen Vorzeichen, konstruiert wurden, und wie dadurch ein politisches Wir-Gefühl, oder, wie bei D’Annunzio, ein pseudo-politisches Wir-Gefühl entsteht. 

Und man sieht natürlich auch, was nicht nur für die Totalitarismen von damals wichtig war, sondern auch heute wieder, wenn auch unter anderen Vorzeichen: eine gewisse politische Hysterie, der unbedingte Glaube das Richtige zu machen. Man sieht, dass heute Europa und auch Deutschland wieder gespalten sind. Das kann man ganz besonders an der Migrationsfrage erkennen. Die Lager haben sich in der Frage auseinander bewegt; der nüchterne politische Dialog ist immer schwieriger geworden.

Es herrscht eine ungeheure Emotionalität. “Wir” gegen “die”. Der Dialog gilt auf beiden Seiten ein bisschen als unfein, denn es sind absolute Fragen geworden. Es gibt nur richtig oder falsch. Etwas dazwischen oder den Kompromiss gibt es heute nicht mehr.

Und diese Kompromisslosigkeit war auch bei D’Annunzio und seinen Anhängern vorhanden. Man kann an ihnen sehr schön sehen, wie politische Gemeinschaften entstehen. Insofern ist das eine Präfiguration des 20. und 21. Jahrhunderts.

D’Annunzio hielt sich 15 Monate lang in Fiume. Der Druck der internationalen Gemeinschaft, die die Republik ablehnte, wuchs. Am 12. Oktober 1920 erhielt Rijeka durch den Grenzvertrag von Rappallo den Status eines unabhängigen Freistaats. D’Annunzio ließ sich danach am Gardasee nieder, wurde von der italienischen Regierung weiter finanziert und als Superstar gefeiert. Der Dichter starb am 1. März 1938 in seiner Villa bei Gardone Riviera, die noch zu Lebzeiten von der italienischen Regierung zur nationalen Gedenkstätte erklärt worden war. 

Der Journalist und Publizist Kersten Knipp arbeitet als politischer Redakteur für verschiedene ARD-Anstalten, unter anderem auch für die Deutsche Welle. Sein Buch “Die Kommune der Faschisten. Gabriele D’Annunzio, die Republik von Fiume und die Extreme des 20. Jahrhunderts” erschien im März 2019. 

Das Gespräch führte Zoran Arbutina.