Stadt Soest ringt um Erinnerung an die Nazi-Zeit

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Wenn Wände sprechen könnten, was würden – und sollten – sie erzählen? Im Falle eines ehemaligen Baracken-Komplexes aus der Nazizeit tut sich die Stadt Soest schwer. Denn an dem Ort überlappen zahlreiche Geschichten.

Die Stadt Soest, rund 50 Kilometer östlich von Dortmund gelegen, ist reich an mittelalterlicher und hanseatischer Geschichte. Die Fachwerkhäuser und die einzigartigen Kirchen und Stadtmauern aus dem 12. Jahrhundert sind ein Touristenmagnet. Nur fünf Autominuten hinter diesen Mauern liegt ein eingezäunter Bereich mit grauen, nebeneinander aufgereihten Gebäuden. Die Verlassenheit des Komplexes täuscht über seine historische Bedeutung hinweg, angefangen mit dem Bau durch die Nazis.

Eine kleine Tafel kennzeichnet eines der Gebäude als frühere Kaserne für belgische Soldaten während der Jahrzehnte des Kalten Krieges. Auf die historische Besonderheit im Dach desselben Hauses weist nichts hin: eine Kapelle mit raumhohen Wandmalereien, gemalt von französischen Kriegsgefangenen während des Zweiten Weltkriegs. Die Kapelle steht heute als Mahnmal für die Opfer des NS-Regimes unter Denkmalschutz.

Die Wandbilder in der Französischen Kapelle, gemalt 1940 von zwei französischen Kriegsgefangenen

Streit über die Gewichtung historischer Ereignisse

In den vergangenen Jahren hat die Stadt Soest neben der Kapelle ein ständiges Museum eingerichtet. Dabei kam es zu grundlegenden Meinungsverschiedenheiten darüber, woran das Museum genau erinnern sollte. Denn die Geschichte der französischen Gefangenen ist nur eine aus einer Reihe wichtiger Ereignisse, die hier stattfanden und für die Geschichte der Stadt im 20. Jahrhundert bedeutend sind.

Ein große Rolle spielte dabei eine gemeinnützige Organisation namens “Geschichtswerkstatt Französische Kapelle” (GFK). Seit 1997 betreuen die ehrenamtlichen Mitarbeiter die Kapelle, sie recherchieren über das Leben der französischen Offiziere und anderer Kasernenbewohner. Sie führen auch Besucher durch die Kapelle, unter ihnen Nachkommen der ehemaligen Kriegsgefangenen. Zu ihnen gehört Pierre Laurent, den die GFK eingeladen hat: Sowohl sein Vater als auch sein Onkel waren während des Zweiten Weltkriegs im Soester Komplex gefangen gehalten worden.

Pierre Laurent besuchte die Soester Kapelle mit seiner Frau France. Sein Vater und Onkel waren dort inhaftiert.

Gelebte Familiengeschichte 

“Mein Vater hat praktisch nie darüber gesprochen, was er in diesem Lager durchgemacht hat”, sagt Laurent der DW. “Unser Besuch im Mai in der Kaserne war für uns besonders bewegend, weil wir viele Dinge erfahren haben, von denen wir nichts wussten.” Auch die Solidarität seitens der GFK und die Art und Weise, wie sie sich um das Andenken der französischen Gefangenen kümmert, hätten ihn berührt.

Über die Erfahrungen der französischen Kriegsgefangenen ist wenig bekannt. Wie Laurents Vater und Onkel sprachen viele Gefangene nach der Rückkehr in die Familie selten über ihre Erfahrungen, und die Forscher des Zweiten Weltkriegs haben sich vor allem auf jene Kriegsopfer konzentriert, die unter den Nazis stärker unterdrückt wurden.

“Den ganzen Raum ausleuchten”

Ursprünglich war es der Wunsch der GFK, dass der Fokus des Museums allein auf der Kapelle und den französischen Kriegsgefangenen liegt, um die deutsch-französischen Beziehungen zu stärken. Mit dieser Spezialisierung wäre das Soester Museum das erste seiner Art in Deutschland gewesen. Die Stadt entschied jedoch, die Geschichte der belgischen Truppen, die während des Kalten Krieges hier stationiert waren, mit einzubeziehen. 

Ulrike Gilhaus, Leiterin des Museumsamtes des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe, schlägt einen ganzheitlichen Ansatz vor. Sie ist von der Stadt Soest um ihre Expertise gebeten worden. Ein reiner Fokus auf die französischen Kriegsgefangenen wäre nicht ausreichend, sagt sie gegenüber der DW. “Ein Geschichtsort muss in seiner gesamten zeitlichen Schichtung abgebildet sein”, so Gilhaus. Alles andere wäre “so, als ob wir in den Keller gehen und leuchten mit einer Taschenlampe auf ein Element. Dann haben Sie auch nicht den ganzen Raum erfahren. Mir ging es darum, den ganzen Raum auszuleuchten.”

Zahlreiche unterschiedliche Schicksale

In diesem Fall hat der Raum viele Elemente, die beleuchtet werden sollten. Die Baracken wurden 1938 von den Nazis errichtet. Während des Zweiten Weltkriegs waren hier neben Franzosen, Belgiern und Niederländern auch zahlreiche sowjetische Kriegsgefangene interniert. Im Gegensatz zu ihren westeuropäischen Leidensgenossen standen die Sowjets jedoch nicht unter dem Schutz der Genfer Konvention von 1929. Sie mussten wesentlich schlechtere Bedingungen ertragen; sie erlebten Missbrauch und Hunger und wurden im Krankheitsfall nicht behandelt.  

Plan des ehemaligen Kriegsgefangenenlagers in Soest

Nach Kriegsende lebten 300.000 Zwangsarbeiter in den ehemaligen Baracken, gefolgt von deutschen Kriegsflüchtlingen aus den ehemaligen Gebieten in Mittel- und Osteuropa. Von 1951 bis 1994 schließlich waren hier belgische Soldaten stationiert. 

Vom Bau bis heute

Gilhaus ist der Meinung, dass die Ausstellung mit dem Bau des Komplexes beginnen und die Geschichte seiner Nutzung und seiner Insassen bis heute nachzeichnen sollte – stets eng verknüpft mit der Geschichte der Stadt Soest. Die unterschiedlichen Erfahrungen der französischen und sowjetischen Offiziere seien besonders wichtig, betont Gilhaus. 

“Die einen sind es wert, eine bessere Behandlung zu erfahren, die anderen stehen ganz am Ende einer ethnischen Hierarchie und haben eine erheblich geringere Unterstützung in allen Notwendigkeiten des Lebens erfahren. Diese ethnische Hierarchie ist ein typisches Merkmal des Nationalsozialismus,” erklärt sie.

Die Vorschläge der Museumsexpertin führten dazu, dass die GFK-Vorsitzende, die für einen engen Fokus plädiert hatte, zurücktrat, aber der derzeitige stellvertretende Leiter der Gruppe, Werner Liedmann, begrüßt den ganzheitlichen Ansatz. “Um Geschichte zu begreifen, muss man eigentlich alle Opfergruppen mit in den Blick nehmen.”, sagt er. Liedmann glaubt, dass die französischen Gefangenen und die Kapelle durch die Installation des Museums nebenan ausreichend gewürdigt werden. “Mit dem Blick auf die Zeitgeschichte verlassen wir diesen Ort und stellen neue Bezüge her,” ob mit ausländischen Besuchern oder gar der Stadt Soest, sagte er.

Begrüßt einen ganzheitlichen Ansatz für das neue Museum: Werner Liedmann von der “Geschichtswerkstatt Französische Kapelle”

Entwicklung einer Erinnerungskultur

Liedmann hält es für entscheidend, eine Verbindung zu Soest herzustellen, da der Stadt das Bewusstsein für ihre Geschichte des 20. Jahrhunderts fehle: “Wir haben in der Stadt sehr wenig Erinnerungskultur.” Ihm geht es darum, “den Soestern bewusst zu machen, das ist Teil eurer Geschichte, was hier passiert ist, und kein Phantom, was zufällig in Soest gelandet ist.”

Ulrike Gilhaus stimmt zu, dass es für die Stadt wichtig sei, einen Raum zu haben, der ihre Geschichte während der Nazizeit erzählt, denn so etwas fehle bislang: “Wir haben in Soest eine ganze Reihe an Museen; es gibt aber keinen Ort, der wirklich die Geschichte des Nationalsozialismus thematisiert.”

Drei Generationen der Laurent-Familie trafen sich in Soest mit Mitgliedern der GFK

Vermittlung der Geschichte durch Austausch

Das vorgeschlagene Museum muss kostenneutral sein; ohne Drittmittel werde es nicht zu realisieren sein, sagte Maria-Luise Pepinghege, die Vorsitzende des Kulturausschusses der Stadtregierung, der DW. Ihr Ausschuss wird am 12. September über die Größe des zukünftigen Museums entscheiden. Ein größerer Raum ist für den breiteren Ansatz unerlässlich, erfordert aber mehr Ressourcen.

Die “Geschichtswerkstatt” wartet gespannt auf die Entscheidung. Sie soll am 12. September fallen. Liedmann hat klargestellt, dass die GFK nur dann an Bord bleiben wird, wenn der daraus resultierende Vorschlag genügend Raum und Ressourcen für die Gruppe bietet, um die persönliche Bildungsarbeit, die sie seit Jahren mit den Besuchern der Kapelle leistet, fortzusetzen. Die Vermittlung von Geschichte könne man nur im Austausch mit Menschen erfahren, nur so sei möglich, “dass es ein Miteinander gibt. Und was braucht Europa mehr als das?”