Die Gefahren des Totalitarismus: Margaret Atwoods neuer Roman “Die Zeuginnen”

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Für ihren aktuellen Roman “Die Zeuginnen” kehrt Margaret Atwood zurück in die Diktatur von Gilead. Doch ist Atwoods Dystopie, 34 Jahre nach der Veröffentlichung von “Der Report der Magd”, überhaupt noch Fiktion?

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Margaret Atwoods “Zeuginnen”

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Margaret Atwoods “Zeuginnen”

Es war das Literatur-Event des Jahres: Am vergangenen Dienstag fand die sorgfältig geplante, mitternächtliche Buchvorstellung des zweiten Teils von Margaret Atwoods “Der Report der Magd” im Londoner Flagship-Store der Buchhandlung Waterstones statt. Eine 79-jährige kanadische Buchautorin machte an diesem Abend dem legendären Nachtleben der britischen Hauptstadt Konkurrenz. 

Während die Partygänger im West End von den Bars in die Nachtclubs ziehen, erstreckt sich die Schlange der Wartenden vor der berühmten Buchhandlung am Piccadilly Circus bis um die nächste Straßenecke. Von den Veranstaltern angeheuerte Statistinnen in den gruseligen Magd-Kostümen aus der gleichnamigen TV-Serie schleichen um die Fans herum. Die sind sichtbar aufgeregt, endlich ihr eigenes Exemplar von “Die Zeuginnen” in den Händen halten zu können.

Die Königin der Dystopie

Einige warten schon seit drei Jahrzehnten darauf, wie es mit den Charakteren in Atwoods fiktivem totalitären Staat Gilead weitergeht. Dann erscheint sie, die Königin der Dystopie höchstpersönlich: Margaret Atwood. In dem Gedränge hat sie Schwierigkeiten, an der aufwändigen Dekoration vorbei in den Laden zu kommen. Gleich wird sie zum ersten Mal aus ihrem neuen Werk lesen.  

Auf dem Weg in den Totalitarismus

Mit knapp 80 Jahren füllt Margaret Atwoods Persönlichkeit noch immer problemlos jeden Raum. Kein Wunder, hat sie doch in 50 Jahren ebenso viele Bücher in 40 Sprachen veröffentlicht. Aber selten zuvor wurde sie dermaßen theatralisch in Szene gesetzt wie an diesem Abend – die Veranstaltung gleicht eher einem Festival als einer Buchvorstellung, und die Fans feiern die Kanadierin wie einen Popstar. 

In ihrer typisch geselligen und humorvollen Art wirkt Margaret Atwood überlebensgroß, obwohl sie zierlich, fast schon zerbrechlich gebaut ist. Sie erscheint zugleich weise und resolut. Gleichzeitig fordert ihre Anwesenheit Respekt, als wäre sie selbst eine Überlebende aus Gilead – und irgendwie ist sie das auch. 

Als “Der Report der Magd” 1985 erschien, war nicht jeder begeistert von Atwoods düsterer Zukunftsvision für Frauen. Einige Kritiker empfanden den Text als zu weit hergeholt. Andere fragten laut Atwood nur: “Wie viel Zeit haben wir noch?” 

Angesichts der aktuellen Diskussionen um Frauenrechte in den USA und anderswo könnten Gesellschaften laut Atwood auch heute noch jederzeit in einen Totalitarismus à la Gilead rutschen: “Wenn man sich bestimmte Gesetzesvorhaben so ansieht, sind einige US-Staaten fast schon soweit”, so Atwood bei einer Pressekonferenz in der British Library. “Wären Regierungen fair und gerecht und wirklich der Konsens der Wähler, dann dürften nur potenziell schwangere Frauen über diese Themen entscheiden.”

Fakt oder Fiktion?

Angesichts der andauernden Debatte in den USA über die Selbstbestimmungsrechte von Frauen bei Fortpflanzungsfragen kommt Atwoods Roman-Fortsetzung genau zur rechten Zeit. Bei der Buchpräsentation sagt sie, dass die Welt von heute Gilead ähnlicher sei als noch vor 34 Jahren, als “Der Report der Magd” herauskam: “Im Lauf der Zeit haben wir uns eher auf Gilead zubewegt als davon entfernt”, sagt Atwood. “1985 haben einige Politiker darüber gesprochen, was sie gerne tun würden, wenn sie an der Macht wären. Jetzt haben sie sie.”

Drei Erzählerinnen, drei Perspektiven

Trotz der scheinbar feinen Trennlinie zwischen Fakt und Fiktion gibt es einige entscheidende Unterschiede zwischen “Der Report der Magd” und “Die Zeuginnen”. Der neue Roman spielt 15 Jahre nach dem Ende der ersten Erzählung und wird aus der Sicht von drei Frauen erzählt, die die Geschehnisse in der brutalen Welt von Gilead auf unterschiedliche Art und Weise betrachten und interpretieren. Sie wollte untersuchen, wie verschiedene Frauen auf ein Leben in Unterdrückung reagieren, so Atwood.

“Die Geschichte der Dienerin” wurde 1989 von Volker Schlöndorf verfilmt

Die Erzählerstimmen, die Atwood einführt, sind eine Überläuferin, die aus Gilead nach Kanada flieht, ein junges Mädchen, die nur Gilead kennt (und daher ihre Rolle für selbstverständlich hält) sowie ein Charakter, den die Leser von “Der Report der Magd” gut kennen: Tante Lydia. Die Stimme Desfreds, der glücklosen Heldin aus dem ersten Teil, fehlt. Atwood sei sich durchaus bewusst, dass dies eine Enttäuschung für viele Fans sein könnte, aber sie steht zu ihrer Entscheidung, sich Gilead aus neuen Blickwinkeln zu nähern. 

“Die Leserschaft besteht aus verschiedenen Individuen, die unterschiedliche Meinungen haben. Natürlich besteht immer die Gefahr, sein Publikum zu enttäuschen, aber dieses Risiko bin ich schon öfter eingegangen”, sagt Atwood bezüglich der gemischten Kritiken, die “Der Report der Magd” bei seiner Veröffentlichung erhielt. 

Von der Mauer zum 11. September

Als Margaret Atwood “Der Report der Magd” schrieb, lebte sie in West-Berlin, einer Enklave, umgeben von der sozialistischen DDR und der Mauer. Angesichts der geteilten Stadt hatte sie sich gefragt, wie wohl ein totalitärer Staat in Nordamerika aussehen würde, sagt sie. So entstand die Idee zum gewalttätigen Patriarchat von Gilead. Sie basierte ihre Erzählung auf existierenden und historischen Fällen von Frauenunterdrückung. “Für alles in diesem Roman gibt es eine reale Vorlage. Ich wollte nichts hineindichten, was nicht irgendwer irgendwo schon einmal getan hatte”, sagte Atwood einmal gegenüber dem Magazin “People”.

Elisabeth Moss in Staffel 1 der TV-Serie “The Handmaid’s Tale”

Als die Mauer vor 30 Jahren fiel, gab es im Westen die ersten diktatorischen Anzeichen. “Und dann, in den Neunzigern, gingen alle shoppen. (…) Die Globalisierung würde schon alles regeln. Dann hieß es ‘hier kommt das Internet, hurra!’ – und hier sind wir”,  so Atwood gegenüber Reportern während der Buchvorstellung. Und sie fügt hinzu: “Dann kam der 11. September. Der Tag änderte alles. (…) Seitdem sind wir ängstlicher, selbstbezogener und verwundbarer. Damals begann ich, über die Rückkehr nach Gilead nachzudenken.”

Eine moderne Dystopie

All die Jahre nach dem Fall der Mauer wird – pünktlich zur Veröffentlichung von “Die Zeuginnen” – über eine neue Mauer entlang der US-amerikanisch-mexikanischen Grenze diskutiert. Isolationismus, Schutzzollpolitik und Populismus greifen im Westen um sich. Der hoffnungsvolle Moment nach dem Ende des Kalten Krieges wirkt heute nur noch wie eine historische Randnotiz. “Ist die Welt von ‘Der Report der Magd’ und ‘Die Zeuginnen’ eine Dystopie? Hoffen wir’s!”, sagt Atwood in London – doch angesichts der Zukunft klingt sie dabei desillusioniert. 

Margaret Atwood wurde 2017 mit dem Friedenspreises des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet

Dieser neue Tonfall ist auch in ihrem Buch spürbar. Während in “Der Report der Magd” noch eine Hoffnung auf das Ende von Theokratie und Totalitarismus spürbar war, konzentriert sich “Die Zeuginnen” auf das Bewältigungsverhalten, das verschiedene Menschen entwickeln müssen, um in dieser Art von Knechtschaft zu überleben.  

Schon die ersten Zeilen in dem Buch reflektieren diese Stimmung, sie tragen aber auch einen Funken Hoffnung auf Gerechtigkeit und Erlösung in sich. Angesichts des ersten Satzes von “Die Zeuginnen” ist es keine Überraschung, dass Margaret Atwoods erste literarische Liebe (und Disziplin) die Poesie war: “Nur Tote dürfen Denkmäler haben, ich habe aber zu Lebzeiten eines bekommen. Schon jetzt bin ich versteinert.”

Margaret Atwood: Die Zeuginnen. Roman. Aus dem Englischen von Monika Baark. Berlin Verlag, Berlin 2019, 576 Seiten.