MH17-Zeuge per Gefangenaustausch nach Russland?

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Ein Gericht in der Ukraine hat Wolodymyr Tsemakh freigelassen. Er gilt als wichtiger Zeuge im Fall des abgeschossenen Flugs MH17. Nun steht seine Aussage in Frage, weil er offenbar nach Russland überführt werden soll.

Ein Gericht in Kiew hat am Donnerstag überraschend Wolodymyr Tsemakh freigelassen. Der Ukrainer gilt als wichtiger Zeuge im Fall der 2014 über der Ostukraine abgeschossenen malaysischen Boeing mit der Flugnummer MH17. Er sollte in dem Verfahren aussagen, doch nun ist unklar, ob es dazu kommt. Es verdichten sich Hinweise darauf, dass Tsemakh, ein früherer Kämpfer der prorussischen Separatisten, im Rahmen eines Gefangenenaustausches zwischen Moskau und Kiew nach Russland überführt werden könnte.

Der geplante Austausch von mehr als 30 Personen jeder Seite, darunter einige prominente Gefangene, wurde Ende August offenbar kurzfristig verschoben. Die genauen Hintergründe sind unbekannt. Es gab Spekulationen, wonach dies mit Tsemakh zu tun haben könnte. Auch andere Personen, die ausgetauscht werden sollten, wurden in der Ukraine zuvor aus der Haft entlassen, etwa der Journalist Kiril Wyschynskij. Die Verhandlungen über den Austausch seien vor einem Abschluss, sagte am Donnerstag Russlands Präsident Wladimir Putin am Rande eines Forums. Konkrete Namen nannte er nicht. Manche Beobachter finden, der Zeitpunkt von Putins Äußerung sei auffällig – unmittelbar nach Tsemakhs Freilassung. Eine Bestätigung über Tsemakhs bevorstehende Überführung gibt es nicht. Bekannt ist nur, dass die Separatisten ihn im Sommer auf eine Austauschliste gesetzt haben.

Flug MH17 war unterwegs von Amsterdam nach Kuala Lumpur und wurde über der Ostukraine abgeschossen

Was ist über Wolodymyr Tsemakh bekannt? 

Der 58-jährige Tsemakh soll 2014 bei den Separatisten in seinem Heimatort Snizhne im ostukrainischen Gebiet Donezk für die Flugabwehr zuständig gewesen sein. Bei Snizhne soll die Rakete vom Typ “Buk” gestartet sein, mit der Flug MH17 am 17. Juli 2014 abgeschossen wurde. Alle 298 Menschen an Bord der Maschine wurden getötet. Das internationale Ermittlerteam (JIT) glaubt, das Flugabwehrsystem “Buk” sei kurz davor von Russland in die Ukraine gebracht worden. Moskau bestreitet jede Beteiligung am Abschuss von Flug MH17.

Öffentlich wurde der Name Tsemakh erst im Juli 2019 bekannt, als ukrainische Sonderheiten ihn in einer Nacht-und-Nebel-Aktion aus Snizhne, tief im Landesinneren der selbsternannten “Volksrepublik Donezk”, faktisch entführt und nach Kiew gebracht hatten. Es gibt unbestätigte Berichte, wonach Tsemakh betäubt und in einem Rollstuhl über die Trennlinie in das von Kiew kontrollierte Gebiet gebracht wurde. Aus diversen Quellen heißt es, Tsemakh sei in den letzten Jahren beim Militär der Separatisten nicht mehr aktiv gewesen und habe als Sportlehrer gearbeitet. Die Vorwürfe gegen ihn bleiben trotz Freilassung bestehen.

In Kiew wird Tsemakh wegen terroristischer Aktivitäten verdächtigt und saß deswegen in Untersuchungshaft. Ihm droht Haft zwischen acht und 15 Jahren. Kenntnisse über den Umgang mit dem sowjetischen Buk-System besitzt er wohl: In seinem Profil im russischen sozialen Netzwerk “Odnoklassniki” (dt.: Klassenkameraden) heißt es, er sei zu Sowjetzeiten an der militärischen Flugabwehrschule in Poltawa ausgebildet worden.

Tsemakh selbst bestreitet, in den Abschuss der Boing involviert gewesen zu sein. Er sei damals außerhalb der Stadt Snizhne gewesen, sagte er im Gerichtssaal in Kiew Ende Juli. Allerdings gibt es Ausschnitte aus einem Videointerview, in dem Tsemakh über Details des Abschusses spricht. Manche Medien interpretieren seine Aussagen so, als wäre es Tsemakh gewesen, der das Raketensystem versteckt hatte. Das Schüsselwort “Buk” ist im Mitschnitt unkenntlich gemacht. Die Originalaufnahme wurde gelöscht. Der Chef des ukrainischen Sicherheits- und Verteidigungsrates sagte laut Medienberichten, Tsemakh habe wertvolle Informationen über Russlands Rolle im Fall MH17.

Symbole der sogenannten “Volksrepublik Donezk”

Niederländische Ermittler wollen Tsemakh befragen

Während sich Kiew und Moskau in Schweigen hüllen, wollen niederländische Ermittler Tsemakh gerne befragen. Ein Sprecher teilte auf DW-Anfrage mit, Tsemakh sei eine “Person von Interesse” und man würde ihm gerne Fragen stellen. “Wenn er ausgetauscht werden sollte, ist zu bezweifeln, dass wir dann noch mit ihm sprechen könnten”, so der Sprecher. Früher hieß es aus ukrainischen Justizquellen, Tsemakh solle gegenüber niederländischen Ermittlern per Videoschaltung aussagen.

Die niederländische EU-Parlamentsabgeordnete Kati Piri betonte gegenüber der DW, die Freilassung von Tsemakh sei “besorgniserregend”. Piri veröffentlichte am Mittwoch zusammen mit rund 40 anderen EU-Parlamentariern einen Brief an den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, in dem Tsemakh als “Schlüsselverdächtiger” im Fall MH17 bezeichnet wird. Seine “Verfügbarkeit und Aussage” vor dem internationalen Ermittlerteam sei “von größtmöglicher Bedeutung für eine effektive Verfolgung seitens involvierter Länder”. Der Prozess im Fall MH17 soll im März 2020 in den Niederlanden beginnen. Angeklagt sind drei russische Staatsbürger und ein Ukrainer, aber nicht Tsemakh.