Chemnitz: “Das Moralisieren nervt hier viele”

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Chemnitz hat viel getan, um nach der tödlichen Messerattacke und den Ausschreitungen vor einem Jahr sein Image aufzupolieren. Doch die “Wir sind Mehr”-Kampagne kommt nicht bei allen in der sächsischen Stadt an.

Man muss schon genauer hinsehen, um die kleine Tafel zu entdecken, die auf dem Bürgersteig der Chemnitzer Brückenstraße an Daniel H. erinnert. Die kleine, silberfarbene Plakette mit einem Friedenszeichen ist nur so groß wie ein Pflasterstein und markiert die Stelle, an der der 35-jährige Deutsch-Kubaner am 26. August 2018 während eines Stadtfestes getötet wurde.

Des Verbrechens angeklagt wurde Alaa S., ein 23-jähriger syrischer Asylbewerber. Nun wurde er in Dresden wegen Totschlags und gefährlicher Körperverletzung zu neuneinhalb Jahren Haft verurteilt. Was das Urteil aber nicht zutage bringen kann ist, warum dieses Ereignis so weitreichende Folgen für Chemnitz, aber auch für das politische Klima in Deutschland hatte.

Der Angeklagte Alaa S. vor Gericht in Dresden

Am Tag nach Daniel H.s Tod kippte die Stimmung auf dem Stadtfest. Es tauchten Videos auf, in denen Migranten gejagt wurden, während die Polizei offenbar nicht in der Lage war, die Situation zu kontrollieren. Als das Fest vorzeitig abgebrochen wurde, kam es eine Woche lang zu Protesten von Rechtsradikalen, die immer wieder mit Gegendemonstranten der Antifa zusammenstießen, während die Lokalpolitik verzweifelt versuchte, mit den Bürgen in den Dialog zu treten.

Es kam zu großen Demos in Berlin und anderen deutschen Städten, zu denen unter dem Hashtag #WirSindMehr aufgerufen wurde. Damit sollte gezeigt werden, dass mehr Menschen in Deutschland für eine offene und inklusive Kultur stehen als für eine Ablehnung von Migranten.

Ein Jahr #WirSindMehr

Seitdem ist in Chemnitz viel passiert. Überall entstanden Projekte für Toleranz, Vielfalt und Offenheit. Am 4. Juli dieses Jahres fand im Herzen von Chemnitz das Kosmos Konzert statt, dieses Mal unter dem Hashtag #WirBleibenMehr. Eine ganze Reihe bekannter deutscher Popstars trat dort auf.

Das alljährliche Stadtfest, das im letzten Jahr so abrupt endete, wird an diesem Wochenende ersetzt durch ein Streetfestival unter dem Motto: Herzschlag – Chemnitz lebt! Organisiert hat es diesmal nicht die Stadt, sondern eine örtliche Initiative.

Unscheinbar: Die Gedenktafel für Daniel H. in Chemnitz

Die Stadt hat mit Unterstützung der Bundesregierung viel in Geld in Projekte investiert. Eines davon ist Chemnitz Open Space. Man findet es gleich hinter dem Kopf von Karl Marx, einer riesigen Skulptur und Wahrzeichen von Chemnitz. Hier finden alle Demos in Chemnitz statt, auch die nach der Messerattacke.

Seit letztem Mai gibt es hier Veranstaltungen von Künstlern und Aktivisten, die die demokratische Kultur der Stadt fördern sollen. Eine davon zeigt zum Beispiel die Verflechtungen von Chemnitz mit dem rechtsterroristischen NSU.

Rebecca Dathe, eine der Projektmanagerinnen, pflanzt am Mittwoch Nachmittag neue Blumen rund um den Kopf. Bis zum letzten Sommer hätten viele Chemnitzer einfach weggeschaut oder es stillschweigend akzeptiert, wenn Nachbarn oder Freunde rechtsextreme Haltungen an den Tag legten. “Doch die Ereignisse im letzten Sommer brachten viele Menschen dazu, sich politisch mehr zu engagieren”, sagt sie. “Man merkt, dass die Leute bewusster mit Rechtsextremismus umgehen. Sie schauen nicht mehr einfach weg.”

Rückschläge für die Toleranz

So weit stimmt Franz Knoppe, Projektleiter beim Chemnitzer Netzwerk für Globales Lernen, zu. “Es gibt mehr bürgerliches Engagement. Es gibt viele Bürger, die jetzt da mitarbeiten, die Dialogräume suchen, Projekte starten. Es gibt auch viele Veranstaltungen, die wirklich voll sind. Da passiert ganz viel”, sagt Knoppe zur DW.

Ausschreitungen in Chemnitz vor einem Jahr

Doch dann sind da noch die politischen Strukturen in Chemnitz. Bei den Kommunalwahlen im Mai dieses Jahres erhielt die AfD 18 Prozent der Stimmen und wurde nach der CDU zweitstärkste Kraft. Hinzu kommen acht Prozent für die rechtsextreme Wählervereinigung Pro Chemnitz, zu der auch Hardcore-Neo-Nazis gehören und die nach Daniel H.s Tod Demos in Chemnitz organisiert haben.

Karsten Hilse, der für die AfD im Bundestag sitzt und aus Sachsen kommt, findet, dass die Demos im vergangenen Jahr falsch interpretiert wurden: “Was die Chemnitzer der Politik sehr übel genommen haben ist, dass von diesem Mord sehr wenig gesprochen wurde, sondern nur noch von den Leuten, die demonstriert haben. Als ganz normaler Bürger, der jeden Tag zur Arbeit geht und Steuern zahlt, sagen Sie: Ok, jetzt reicht’s mir, jetzt gehe ich auf die Straße, mit dieser Migrationspolitik bin ich einfach nicht mehr einverstanden. Und wenn Sie dann plötzlich von den Medien als rechtsextrem bezeichnet werden, dann haben Sie so einen Hals.”

Trotz aller städtischen Bemühungen für Toleranz bleibt der Umgang mit dem Thema schwierig, sagt Knoppe. “Ich habe immer das Gefühl, wenn man das Thema wieder bedient, gibt es eine Gegenreaktion. Wenn es zu plakativ wird, wirkt es spaltend.” Damit erreiche man nicht die Menschen, die zwar nicht mit den Nazis marschieren würden, aber dennoch den Tod von Daniel H. alarmierend fänden. “Das Moralisieren nervt viele Menschen hier. Wenn du mit Weltoffenheit kommst, dann zeigen sie den Stinkefinger. Das ist halt moralisch, und das erinnert viele an die DDR.”

Karl-Marx-Statue in Chemnitz: Schauplatz von Demos

“Moralisieren” erinnert an DDR

Knoppe zeigt als Beispiel ein Video des örtlichen Rappers Bengalo Dobermann. Der hat gerade einen Song zu Ehren des verstorbenen örtlichen Hooligans Thomas Haller veröffentlicht, der eine rechtsextreme Organisation gegründet hatte, die mit der Chemnitzer Fußballszene verknüpft war. In dem Song wird Toleranz zur Pfeife, nach der alle zu tanzen haben; Presse und Politik, heißt es darin, säßen im selben Boot.

Doch so sehr die Menschen das Moralisieren ablehnen: Auf einer alltäglichen Ebene finden sie doch oft einen Weg, um miteinander auszukommen. Knoppes Kinder zum Beispiel, so erzählt er an diesem sonnigen August-Tag bei einer Tasse Kaffee, spielen in ihren Fußballclubs mit den Sprösslingen von Migranten und AfD-Anhängern zusammen.