Atomunfall: Was hat Russland zu verbergen?

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Bei einer Explosion im Nordwesten Russlands wurde Strahlung freigesetzt. Und plötzlich lieferten Messstationen eines internationalen Überwachungssystems keine Daten mehr aus Russland. Experten glauben nicht an Zufall.

Befürchtungen nehmen zu, die russischen Behörden wollten das wahre Ausmaß der Explosion auf dem Njonoksa-Militärgelände nahe Sewerodwinsk am 8. August vertuschen. Wie sich jetzt herausstellte, waren in Russland Messstationen des internationalen Nukleartest-Überwachungssystems (IMS) ausgefallen. Das berichtete die Kommission mit Sitz in Wien, die sich mit der Umsetzung des Vertrages über das umfassende Verbot von Nuklearversuchen (CTBTO) befasst. Die russischen Behörden erklärten daraufhin, es habe Verbindungsprobleme mit den Messstationen gegeben. Später behauptete der stellvertretende Außenminister Sergej Rjabkow, die Übermittlung von Daten der Messstationen an die CTBTO sei “völlig freiwillig”.

Russland ist eines von 184 Ländern, die den Vertrag über das Verbot von Nukleartests unterzeichnet haben. Im Gegensatz zu den USA hat Russland den Vertrag auch ratifiziert. In Kraft treten konnte er jedoch bisher nicht, da ihn noch weitere Länder, darunter Nordkorea und Iran, nicht ratifiziert haben. Dennoch hat Moskau mit der CTBTO ein Abkommen über die Finanzierung der Messstationen in Russland geschlossen. Für den Betrieb der Stationen ist aber das russische Verteidigungsministerium zuständig. Die von den Stationen gemessenen Strahlenwerte werden direkt an die CTBTO sowie an alle Mitglieder der Organisation übermittelt.

Messstationen einfach abgeschaltet?

Den Verdacht, es könnte einen Zusammenhang zwischen der Explosion auf dem Testgelände und dem Ausfall der Messstationen geben, äußerte als erster CTBTO-Exekutivsekretär Lassina Zerbo. Auf Twitter veröffentlichte er eine Karte, die die Ausbreitung der radioaktiven Wolke in den Tagen nach der Explosion zeigt. Sie bewegte sich hauptsächlich über russischem Territorium.

In Russland gibt es insgesamt sieben Messstationen im Rahmen des Vertrags mit der CTBTO. Ausgefallen waren die Stationen in Dubna und Kirow im europäischen Teil Russlands sowie im Osten des Landes in Bilibino, Salesowo und Peleduj. “Es ist natürlich verdächtig, wenn nur die Stationen abgeschaltet sind, die den Anstieg der Strahlung hätten messen können”, sagte Jeffrey Lewis vom James Martin Center. Verbindung habe es nur noch zu den entfernten Stationen in Fernost gegeben. Dem Experten zufolge bestand dort keine Möglichkeit, die erhöhte Strahlung zu erfassen.

“Das ist kein zweites Tschernobyl”

Michael Schöppner vom Wiener Institut für Sicherheits- und Risikowissenschaften (ISR) meint, die Tatsache, dass vier oder fünf Stationen ausgefallen seien, könne man als Indiz dafür nehmen, dass gezielt die Stationen ausgeschaltet wurden, die Luftmassen aus der Region Sewerodwinsk messen konnten. Zwei der Stationen – die in Bilibino und Peleduj – liefern inzwischen wieder Daten nach Wien.

Keine Daten mehr nach Wien: Überwachungszentrale der CTBTO in Wien

Nach der Explosion hat auch der russische meteorologische Dienst eine Zunahme der radioaktiven Strahlung um das 16-fache gemessen. Schöppner, der auch mit der CTBTO zusammenarbeitet, meint jedoch, sie sei ungefährlich. “Wenn die Angaben über die maximale Dosis von zwei Mikrosievert pro Stunde stimmen, bedeutet das kein Gesundheitsrisiko. Das ist weniger als auf einem kommerziellen Flug pro Stunde Flugzeit über den Atlantik”, sagte er der DW. “Das ist definitiv kein zweites Tschernobyl.”

Sollen Spuren verwischt werden?

Anne Pellegrino vom James Martin Center for Nonproliferation Studies am Middlebury Institute im kalifornischen Monterey, das sich mit Rüstungskontrolle befasst, sagte der DW in diesem Zusammenhang: “Möglicherweise hat Russland die Datenübermittlung gestoppt, damit andere Staaten nicht an potentiell wichtige Informationen über die in Njonoksa freigesetzte Radioaktivität kommen.” Wahrscheinlich seien weiterhin Daten gemessen worden, ohne dass sie an das internationale Erfassungszentrum in Wien übermittelt wurden, vermutet Pellegrino.

Schöppner zufolge hinterlässt jedes Aggregat, das radioaktive Elemente verwendet, einen eigenen “Fingerabdruck”. Gerade diesen wolle Moskau verbergen. “Wenn ein Experte weiß, welche Isotope in welchem Verhältnis gemessen waren, kann er sagen, um welche Art von nuklearen Unfall es sich gehandelt hat, ob ein bestimmter Antrieb, Reaktor oder eine bestimmte Art von Spaltmaterial in den Unfall verwickelt war”, so Schöppner.

Ob ein Marschflugkörper auf dem militärischen Testgelände bei Sewerodwinsk getestet wurde, dazu machen die russischen Behörden keine Angaben. Informationen aus dem russischen Nuklearzentrum in Sarow lassen keine Rückschlüsse zu, ob es sich bei der Explosion um eine Rakete von Typ “Burewestnik”, die von einem “Mini-Reaktor” angetrieben wird, oder um Waffen mit einem thermoelektrischen Radioisotopengenerator (RTG), einer so genannten “Atombatterie” gehandelt hat. Die Experten des James Martin Centers gehen jedoch von einem misslungenen Test mit einem Burewestnik-Marschflugkörper aus, dessen NATO-Codename “Skyfall” lautet.