Rammstein: Was in den Lyrics versteckt ist

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Rammstein sind martialisch und ihre Texte brutal. Wirklich? Am häufigsten nutzt Till Lindemann das Wort “Liebe” – und lässt sich von Goethe inspirieren.

Viel Liebe und viel Herz. Darum drehen sich die Texte von Rammstein – zumindest, wenn man sich die Anzahl der einzelnen nach Wortstamm zusammengefassten Wörter der sieben Studioalben der Band anschaut. Sänger und Textschreiber Till Lindemann benutzt in den deutschen Lyrics am häufigsten Wörter, die mit “Liebe” zu tun haben. Platz zwei belegt im Rammstein-Lyrics-Ranking das “Herz”, gefolgt von “Mann” und “gut”.

Klingt, als könnte Rammstein auch in einer deutschen Schlager-Show auftreten, in der das Publikum fröhlich beseelt im Rhythmus eines Viervierteltakts auf die Eins und die Drei klatscht. Die gute Laune würde diesem aber vermutlich vergehen, wenn es die kompletten Liedtexte hören würde:

Ein Mensch wird geschlachtet und gegessen, ein Mädchen von einem Vergewaltiger im Keller festgehalten, ein Mann von einer Meute in den Tod getrieben. Willkommen in Till Lindemanns Gruselkabinett.

Goethe und deutsche Märchen bei Rammstein

Doch nicht all der Horror entspringt nur der Feder von Till Lindemann. Bei einigen Lyrics hat sich der Frontmann von klassischer deutscher Literatur inspirieren lassen. So finden sich beispielsweise Anlehnungen an Deutschlands prominentesten Dichter Johann Wolfgang von Goethe:

Bei dem heißt es in der Ballade “Erlkönig”:

Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?

Es ist der Vater mit seinem Kind;

Er hat den Knaben wohl in dem Arm,

Er fasst ihn sicher, er hält ihn warm.

Bei Rammstein heißt es in “Dalai Lama”:

Ein Flugzeug liegt im Abendwind

An Bord ist auch ein Mann mit Kind

Sie sitzen sicher, sitzen warm

Und gehen so dem Schlaf ins Garn

In Goethes Vorlage wispert die gespenstische Gestalt des Erlkönigs zum Kind und will ihn in sein Reich entreißen. Am Ende der Ballade stirbt der Sohn in den Armen des reitenden Vaters.

Bei Rammstein will der “König der Winde” den Jungen zu sich holen; schließlich erstickt der Junge im Arm seines Vaters, der ihn ob des drohenden Flugzeugabsturzes fest umklammert.

Bertolt Brecht, Struwwelpeter und Theodor Fontane

Doch es bleibt nicht nur bei Goethe: Das Rammstein-Lied “Rosenrot” leiht sich den Titel aus einem von den Gebrüdern Grimm zusammengetragenen deutschen Märchen “Schneeweißchen und Rosenrot”, im Musikvideo zu “Sonne” taucht die Märchenfigur Schneewittchen auf, in “Hilf mir” verbrennt der Ich-Erzähler, weil er mit dem Feuer spielt – genauso wie “Paulinchen”, aus dem in Deutschland sehr populären Kinderbuch “Der Struwwelpeter”, in dem Heinrich Hoffmann mithilfe von makabren Geschichten Mitte des 19. Jahrhunderts vor Gefahren warnte.

Die Duell-Szene aus “Roter Sand” erinnert an jene aus dem Roman “Effie Briest” von Theodor Fontane aus dem 19. Jahrhundert. 

Auch der Begründer des epischen Theaters, der einflussreiche deutsche Dramatiker und Lyriker Bertolt Brecht, ist bei Rammstein verewigt:

Und der Haifisch, der hat Tränen

Und die laufen vom Gesicht

Doch der Haifisch lebt im Wasser

So die Tränen sieht man nicht

In der aus dem Theaterstück “Die Dreigroschenoper” von 1928 stammenden “Moritat von Mackie Messer” heißt es:

Und der Haifisch, der hat Zähne

Und die trägt er im Gesicht

Und Macheath, der hat ein Messer

Doch das Messer sieht man nicht

Neben den Literatur-Anspielungen gibt es weitere Anlehnungen an deutsche Kultur und Geschichte. Musik-Professor und Musiker Rob Burns will sogar Ähnlichkeiten zwischen dem Gesang von Till Lindemann und deutschen Kabarett-Sängern der Weimarer Republik sehen und zieht Parallelen zwischen Rammstein-Kostümen und Konzert-Bühnenbild und der Maschinen-Ästhetik des expressionistischen Films “Metropolis” von Fritz Lang aus dem Jahr 1927.

Sind Rammstein Nazis?

Die für Till Lindemanns Gesang, aber eben auch für die klischeehafte Darstellung von Nazis in internationalen Filmen verwendete, so typische überdeutliche Aussprache und das rollende “R”, das Band-Logo, das an das Kreuz der Wehrmacht, Symbol der Streitkräfte im nationalsozialistischen Deutschland, erinnert, das Auftreten mit viel Feuer und monumentaler Beleuchtung – all das erinnert viele an das NS-Regime.

Als Rammstein ein Musikvideo zum Depeche-Mode-Cover “Stripped” mit Bildern aus einem Film von Leni Riefenstahl, einer der wohl umstrittensten Regisseurinnen der Filmgeschichte, veröffentlichte, führte das zu einem Eklat und viel Kritik.

Leni Riefenstahl war zwar einerseits eine innovative Filmemacherin, andererseits unterstützte sie das NS-Regime mit Propagandafilmen wie “Triumph des Willens” und dem von Rammstein verwendeten “Olympia”.

Rammstein betonten in mehreren Interviews, dass keines ihrer Mitglieder rechtem Gedankengut anhänge. In einem neuen Video versucht die Band, sich erneut zu dem “Stripped”-Video zu erklären:

Im Magazin “Cicero” sagte Till Lindemann 2015 über seine Lyrics: “Ich soll meine Texte immer analysieren, aber in Wirklichkeit denke ich gar nicht so viel darüber nach.”

Rammstein und die deutschen Klischees

Rammstein stellen das dar, was man im Ausland klischeehaft über Deutschland denken würde, ist Kulturwissenschaftlerin Melanie Schiller überzeugt: “Stereotyp sind die Darstellung von Männlichkeit, die extreme Darstellung von ‘gestählten’, ‘idealisierten’ Körpern, von männlicher Macht, Kameradschaftlichkeit und vielleicht auch die Faszination des Bösen, der Gewalt. Immer wieder kommen die Themen Schuld, Leiden, Befremdung und die Frage von Opfer und Täter in Lyrics und Videos vor.”

Schiller ist Assistant Professor an der Universität Groningen und hat Rammsteins Beziehung zur Heimat untersucht – im Vergleich zu der des seit den 70er-Jahren in Deutschland bekannten Schlagerstars Heino. Vor Kurzem hat sie auch ein Buch über die Auseinandersetzung mit deutscher Identität in der Musik geschrieben: “Soundtracking Germany: Popular Music and National Identity”, heißt es.

Mit Ironie gegen totalitäre Ideologien?

“Man könnte sagen, dass Rammstein nicht nur deutsche Stereotype bedienen, sondern so eine Art deutsche Karikatur sind, groteske Überzeichnungen, fratzenhafte Darstellungen des Deutschseins”, deutet Schiller.

Sie meint: Rammsteins Überzeichnungen seien so überzogen, dass die Band totalitäre Ideologien allgemein vorführe: “Rammstein hebt hervor, wie lächerlich diese Ideologien sind, statt sie zu feiern.”

Immerhin hat die Band ihre Wurzeln als Punks in der repressiven Deutschen Demokratischen Republik in den 80er-Jahren.

Lesen Sie hier einen Artikel über die Ursprünge von Rammstein in der DDR.

Deutsche Geschichte in den Rammstein-Lyrics

Diese Geschichte, das Trauma der deutschen Teilung in zwei Staaten und den Bau der Mauer höre man den Texten von Rammstein durchaus an, meint Schiller – besonders in dem Lied “Mein Land”, das auf dem Best of-Album “Made in Germany” 2011 erschienen ist.

“Dieses Lied funktioniert explizit als Suche nach Identität. Es handelt davon, ständig ausgeschlossen zu sein, von einer unmöglichen Identifizierung mit einem Land oder einer Heimat, davon, im Inneren gespalten zu sein, einer Art Schizophrenie sogar”, interpretiert Schiller und ergänzt:

“Wenn man die Lyrics anguckt, heißt es:

‘Wohin gehst du, wohin?

Ich geh’ mit mir von Ost nach West.

Wohin gehst du, wohin?

Ich gehe von Land zu Land allein.

Und nichts und niemand lädt mich zum Bleiben ein.'”

Diese ewige Suche und das Fremdsein, das Gefühl von Unruhe und Unsicherheit, so Schiller, seien genau das Gegenteil von der Bedeutung, die der Begriff “Heimat” habe.

Rammstein: offen für Interpretationen

Schiller betont jedoch auch, dass diese Sichtweise nicht die einzige bei Rammstein ist: “Rammsteins Musik und die Darstellungen in den Videos sind sehr offen für Interpretationen. Man kann auch darin lesen, dass sie eine idealisierte Version von urdeutscher, nationaler Identität zelebrieren. Und deswegen sind Rammstein über die Bandbreite politischer Ansichten hinweg populär. Die Beurteilung hängt daran, wo man herkommt, was man sehen möchte und wie man interpretiert. Beides ist möglich.”

So waren wohl beispielsweise auch die Attentäter des Amoklaufs an der Columbine High School Rammstein-Fans. In der Folgezeit der Tat haben einige US-amerikanische und britische Radiosender aufgehört, Songs der Band zu spielen.

Dennoch ist Rammstein von den USA bis Russland extrem erfolgreich. Die Konzerte der aktuellen Rammstein-Tour, die im Mai in Gelsenkirchen begonnen hat, sind fast alle ausverkauft. Doch versteht man dort, wie vielschichtig Rammstein ist?

“Meine Erfahrung ist, dass vor allem die Übertreibung und die Ironie von Rammstein im Ausland viel direkter wahrgenommen werden. Diese Stereotype kommen ja von außen, und sie werden dementsprechend von außen auch leichter erkannt und verstanden. Und vor allem sind sie aus dieser Perspektive weniger schmerzhaft”, sagt Kulturwissenschaftlerin Melanie Schiller. Andererseits gingen auch viele Nuancen, Referenzen und Kontexte verloren, gibt sie zu.

Der Kuss in Moskau provoziert auch in den sozialen Medien viele Kommentare

Einige Symbole von Rammstein sind dann aber doch einfacher zu verstehen: So haben sich die Rammstein-Gitarristen Richard Kruspe und Paul Landers auf der Bühne im Moskauer Luschniki Stadion einen Kuss auf den Mund gegeben. In Russland steht diese Geste als “Propaganda nicht-traditioneller sexueller Beziehungen” unter Strafe.

“Die Musik von Rammstein sagt ja etwas über die Gesellschaft in dem Moment aus, in dem die Musik herausgebracht wird. Und die politische Situation in Deutschland hat sich stark verändert in den letzten – sagen wir – fünf Jahren”, sagt Melanie Schiller und spielt damit auf die Debatten um Migration und Flucht in Europa und das Aufkeimen von Rechtspopulismus in Deutschland an; die rechtspopulistische “Alternative für Deutschland” ist seit 2018 in allen 16 Bundesländern vertreten.

Rammstein verändert sich

Rammstein haben bei den aktuellen Shows auch Schlauchboote, wie sie von Geflüchteten bei der Überquerung des Mittelmeeres verwendet werden, in Kombination mit einem Willkommens-Schild genutzt. Für Schiller spiegelt sich der gesellschaftliche Wandel deutlich bei Rammstein wider: “Die Fragen nach dem Suchen, nach dem kritisch-Sein sind expliziter geworden. Rammstein ist wirklich eindeutiger geworden, ohne dabei weniger nuanciert zu sein.”

Vielleicht lassen sich Rammstein ja noch einen weiteren Clou für den Tourabschluss am 22. und 23. August in Wien einfallen.


  • Prominente Rammstein-Fans

    Machten Rammstein in den USA bekannt: Regisseur David Lynch…

    US-Regisseur David Lynch, einer der bekanntesten Filmemacher der Welt, hatte in den 1990ern mit Titeln wie “Wild At Heart” und “Mulholland Drive” einen sensationellen Lauf: Kritiker wie Filmfans verehren Lynch für seine außerordentlichen Motive und albtraumhaften Szenen. Die brachiale Musik von Rammstein passt wie angegossen zu einigen psychotischen Sequenzen in Lynchs Meisterwerk “Lost Highway”.


  • Prominente Rammstein-Fans

    … und Musiker Trent Reznor

    Für den Soundtrack zu “Lost Highway” sicherte sich Lynch die Zusammenarbeit mit Trent Reznor, Filmkomponist, Industrial-Rock-Ikone und Kopf der Nine Inch Nails. Reznors Verwendung zweier Rammstein-Songs im Lynch-Soundtrack kam für die deutsche Band einem Ritterschlag gleich und machte sie schlagartig in den USA bekannt – und das nicht nur unter filmbegeisterten Hipstern .


  • Prominente Rammstein-Fans

    Backstage abgewiesen: Sean Lennon

    Der Sohn von John Lennon und Yoko Ono wird sonst mit deutlich sanfterer Musik in Verbindung gebracht. Wie Rammstein-Keyboarder Flake kürzlich in seiner eigenen Radiosendung erzählte, ging einiges schief, als Lennon die Rocker einmal backstage besuchen wollte. Sänger Till Lindemann warf ihn raus, da er “John” statt “Sean” verstanden hatte, mit dem Nachsatz: “Verarschen kann ich mich selber”.


  • Prominente Rammstein-Fans

    Liebt das Spiel mit Klischees: Annett Louisan

    Auch Chansonnière Annett Louisan ist, verglichen mit Rammstein, am anderen Ende der Härte-Skala angesiedelt. Darauf angesprochen, warum sie trotzdem den Rammstein-Song “Engel” gecovert habe, sagte sie gegenüber der Frankfurter Neuen Presse: “Ich finde es wahnsinnig klug, was Rammstein machen. Sie spielen auf großartige Weise mit archaischen Klischees und werden dabei international verstanden.”


  • Prominente Rammstein-Fans

    Promo-Gag oder echter Klau? Heino

    2013 änderte Schlagerstar Heino komplett seinen Look und näherte sich mit einem Coveralbum Rock und Metal an. Eine seiner Inspirationen: Rammstein. Diese luden Heino sogar zu einem Auftritt beim Wacken Festival ein. Doch das Verhältnis der Musiker wurde getrübt, als Heino 2018 den Rammstein-Song “Engel” auf seinem letzten Album coverte – angeblich ohne Rammstein vorher um Erlaubnis zu fragen.


  • Prominente Rammstein-Fans

    Lässt Lindemann für sich schreiben: Roland Kaiser

    Eine weitere Schlagerlegende ist bekennender Rammstein-Fan: Roland Kaiser. Er ließ sich von Till Lindemann sogar den Liedtext “Ich weiß alles” schreiben. “Ich hatte Till auf ein paar Veranstaltungen getroffen und war auch auf seinem 50. Geburtstag. Irgendwann habe ich ihn gefragt, weil das eine Form der Zusammenarbeit ist, die beiden ihre Glaubwürdigkeit lässt”, sagte Kaiser gegenüber der “SZ”.


  • Prominente Rammstein-Fans

    Gab nie was auf die Nazi-Vorwürfe: Slavoj Žižek

    Der slowenische Philosoph äußerte sich zu Nazi-Vorwürfen gegen die Band 2008 in der “Zeit”: “Rammstein unterlaufen die totalitäre Ideologie nicht durch ironische Distanz, sondern durch Konfrontation mit der obszönen Körperlichkeit der ihr zugehörigen Rituale und machen sie damit unschädlich.” Rammstein seien also nicht nur keine Nazis, sondern “unterminierten” deren Ideologie sogar.


  • Prominente Rammstein-Fans

    Weiß Authentizität zu schätzen: Kiefer Sutherland

    In dem Dokumentarfilm “Rammstein in Amerika” des österreichischen Regisseurs Hannes Rossacher reden zahlreiche US-Künstler über ihr Verhältnis zu Rammstein. Unter ihnen Iggy Pop, Marilyn Manson und Schauspieler und Sänger Kiefer Sutherland (Bild). Er sagt: “Du brauchst dieses Level an Authentizität, an Stil und an Kultur – dann verstehen die Menschen deine Sprache auf der ganzen Welt.”

    Autorin/Autor: Philipp Jedicke