Go east! Zu Besuch in Berlin-Marzahn

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Marzahn gilt aus touristischer Sicht als hoffnungsloser Fall: hässlich und öde. Der Stadtteil steht für Plattenbauten, Arbeitslosigkeit, mangelnde Perspektiven. Das hat DW-Reporterin Rosalie Engels neugierig gemacht.

Einst Europas größte Plattenbausiedlung, zählt Marzahn heute nicht gerade zu den “Must-Sees” in der Hauptstadt. Keine Frage, Marzahn hat einen schlechten Ruf. Vielleicht zu Unrecht? Gibt es hier verborgene Schätze, die einen Berlin-Touristen von seinen vorgezeichneten Trampelpfaden weglocken könnten?

Immerhin gibt es das Gelände der Internationalen Gartenausstellung (IGA) mit seiner Seilbahn und der Aussichtsskulptur Wolkenhain. Und es gibt die „Gärten der Welt“. Vom japanischen bis zum orientalischen Garten kann man hier ferne Welten durchstreifen – und sich wundern wie grün, der als grau verschriene Stadtteil doch ist. Außerdem ist da noch das hübsche Schloss Biesdorf. Aber all das interessiert mich heute nicht. Ich will Platte pur.

Kunst in der Platte

Der erste Stopp auf meiner Route ist ein Kunstprojekt. Und zwar eines, das es schon seit 1984 gibt. Die “Galerie M” ist der Atelier- und Ausstellungsraum der Neuen Kunstinitiative Marzahn-Hellersdorf.

Sie liegt direkt an der Marzahner Promenade, die wie eine Schneise durch die Plattenbausiedlung führt. Angelegt als Einkaufs- und Bummelbereich für die Einwohner. Heute ist sie nicht mehr zeitgemäß. Viele der ehemaligen Geschäfte stehen leer. Begehrt sind die Räume bei Künstlern, die sie als Ateliers nutzen. Oder eben als Galerie.

Kunst in Marzahn – Galerie M

Ich bin an einem dieser heißen Sommertage unterwegs und heilfroh als ich die kühle Galerie betrete. Kaum drinnen, kommt mir ein Mitarbeiter der Galerie mit einem breiten Lächeln im Gesicht entgegen und bietet mir ein Glas Wasser an. Ich nehme dankend an und freue mich über diese freundliche Geste, die in einer Ausstellung in Berlin-Mitte nur schwer denkbar wäre.

Beim Schlendern durch den Projektraum komme ich ins Gespräch mit einer Künstlerin. Einige  ihrer Bilder sind Teil der Ausstellung. Das Konzept der Kunstinitiative sei es, Kunst von Marzahnern für Marzahner zu schaffen, erklärt sie mir.

“Es ist wirklich toll, dass es hier einen Ort gibt, an dem Menschen aus unserem Stadtteil zusammen Kunst machen und ausstellen können. So ein Projekt zeigt, dass der schlechte Ruf von Marzahn ungerechtfertigt ist. Unser Stadtteil ist viel mehr als nur eine Aneinanderreihung anonymer Plattenbauten“, so die gebürtige Marzahnerin.

Mit einer klassischen Galerie hat das nichts zu tun. Aber gerade das ist das Spannende. Kunst ist hier gleichzeitig ein kommunales Projekt. Hier ist der richtige Ort, um ein Gespür für diesen mir fremden Stadtteil zu bekommen, der so jenseits der touristischen Rennstrecken liegt.

Die erste Überraschung ist Marzahn gelungen. Auch auf der Promenade selbst gibt es Kunstwerke zu entdecken, man muss nur genau hinschauen: Wandmosaike und typische Keramikreliefs aus der DDR-Zeit, die Titel haben wie “Arbeit für das Glück des Menschen”.

Über den Dächern der Stadt

Nach meinem Galeriebesuch bin ich erst recht neugierig auf mein nächstes Ziel: Der “Degewo-Skywalk”, eine Aussichtsplattform auf dem Dach eines Plattenbaus an der Marzahner Promenade. Mehrmals wöchentlich kann man kostenlos zusammen mit einem Guide hinauf. Mit dem Fahrstuhl geht es zunächst in den 23. Stock des Wohnblocks, von dort nochmal durch eine Tür auf eine an der Fassade des Gebäudes angebrachten Leiter. Sie führt auf die Plattform in 70 Meter Höhe. Ich bin nicht allein: wir sind zusammen fünfzehn Teilnehmer.

In luftiger Höhe – der Skywalk von Marzahn

Oben angekommen verstummt die Plauderei meiner Mitbesucher für kurze Zeit, denn der Blick über die Hochhaussiedlungen hinweg ist so eindrucksvoll, dass wir alle erst einmal gemeinsam staunen. Trotz der relativ großen Entfernung zum Berliner Stadtzentrum können wir von hier oben problemlos den Fernsehturm und den Berliner Dom sehen, und das brandenburgische Hinterland auf der anderen Seite.

Während des knapp einstündigen Aufenthaltes auf dem Dach erfahren wir durch unseren Guide Markus Krause auch vieles über die Gründung des Stadtteils in den 1970er Jahren. “Das Ganze war von Anfang an ein Mammutprojekt. Beginnend in 1977 wurden hier innerhalb von zehn Jahren 60.000 Wohnungen für 160.000 Einwohner geschaffen. Nach der Wende wurden zunächst viele der Plattenbauten abgerissen, heute baut man sie teilweise wieder auf, da es mehr Nachfrage als Angebot gibt.”

Marzahn ist authentisch

Ganz anders als heute, galt Marzahn zu DDR-Zeiten als sozialistisches Vorzeigeprojekt. Für damalige Verhältnisse waren die Wohnungen großzügig und luxuriös, die Menschen zogen reihenweise aus dem damals stark heruntergekommen Stadtteil Prenzlauer Berg nach Marzahn.

“Attraktiv für potentielle Bewohner war, dass seit der Eröffnung des ersten Gebäudekomplexes die gesamte Infrastruktur des Bezirkes bereits vorhanden war”, sagt Markus Krause. “Kindergärten, Schulen, Schwimmhallen und Einkaufsmöglichkeiten, außerdem große Parks und Alleen, es war von Anfang an alles vor Ort.” 

Vom Dach aus sehen wir, dass heute viele dieser öffentlichen Gebäude leer stehen. Aus der Zeit gefallen. Ich tue mich schwer damit, dieser gigantischen Wohnsiedlung etwas Attraktives abzugewinnen. Aber hier kann ich etwas über die Lebenswelt der DDR erfahren. Dafür gibt es wohl in der ganzen Stadt Berlin keinen besseren Ort. Marzahn ist ungeschönt, unvermarktet und deshalb authentisch.

Ein Dorf wie aus einer anderen Zeit

Fast wie ein Museumsdorf – Alt-Marzahn

Für viele bedeutete der Umzug nach Marzahn trotz grauer Platte auch einen Umzug “auf’s Land”. So baute man in den 1970er Jahren die neuen Wohnkomplexe bewusst um die historischen Dörfer Biesdorf, Kaulsdorf, Mahlsdorf und Alt-Marzahn herum, wodurch dem Bezirk trotz Plattenbauten ein Stück ländlicher Charme erhalten blieb.

Nachdem ich von der Plattform des Skywalks aus bereits das inmitten der Plattenbauten gelegene Dorf Alt-Marzahn gesehen habe, entscheide ich mich nach meiner Kletterpartie zu einem Spaziergang durch das historische Örtchen. Ich fühle mich auf den Straßen Alt-Marzahns tatsächlich in eine andere Zeit zurückversetzt. Einzig und allein die Dächer der mehrstöckigen Wohnkomplexe, die von fast jedem Punkt aus zu sehen sind, zerstören die Illusion.

Eine andere Seite von Berlin

Ein Fazit über Marzahn zu ziehen, fällt mir nach meinem Tagesausflug schwer. Auf der einen Seite bin ich positiv überrascht von Angeboten wie dem Projektraum “Galerie M” und dem Skywalk, von der Tatsache, dass Marzahn tatsächlich mehr ist als nur trostlose Platte.

Auf der anderen Seite tue ich mich schwer, meinen Freunden einen Ausflug in den Stadtteil uneingeschränkt zu empfehlen. Die große Distanz zur Stadtmitte Berlins sowie die Tatsache, dass ich während meines gesamten Aufenthalts kein einziges einladendes Café oder Restaurant gesehen habe sind klare Mankos, vor allem für Berlin-Besucher, die nur wenige Tage in der Stadt verbringen.

Wer jedoch einmal eine etwas andere Seite von Berlin erleben will – abseits viel besuchter Bezirke wie Mitte und Friedrichshain-Kreuzberg – und wer sich mit dem Alltag in der DDR mal wirklich auseinandersetzen möchte, dem würde ich empfehlen nach Marzahn zu fahren.