Friedenscamp gegen den Hass: Nie wieder Sant’Anna

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Sie haben mit den Überlebenden gelacht und geweint. 16 junge Deutsche und Italiener sind zum 75. Jahrestag des SS-Massakers im Bergdorf Sant’Anna di Stazzema zum Campo della Pace in die Toskana gereist.

Auf den ersten Blick sieht es aus wie Urlaub in Italien: Junge Leute zwischen 17 und 26 wandern in der Toskana durch die Apuanischen Alpen, reden, lachen. Doch sie laufen auf den Spuren deutscher Soldaten und italienischer Kriegsflüchtlinge über steile Bergpfade, fragen nach, was im Zweiten Weltkrieg passiert ist, diskutieren auf Deutsch, Italienisch und Englisch über Demokratie und Diktatur, Geschichte und Erinnerung. Immer wieder sprechen sie über den Rechtspopulismus in Deutschland und Italien, der ihnen Sorgen macht.

Aus den Wäldern um Sant’Anna di Stazzema ragt der Turm des Ossariums, der Gedenkstätte, wo man die Toten begrub

“Am Abend weinten alle Männer”

Im Zentrum ihrer Reise steht der Ort eines der schwersten deutschen Kriegsverbrechen in Westeuropa: das abgelegene Bergdorf Sant’Anna di Stazzema, wo deutsche Soldaten angeblich Partisanen bekämpfen wollten und am 12. August 1944 bis zu 560 Menschen töteten: Babys und ihre Mütter, Schulkinder, schwangere Frauen, Großeltern.

Die Männer versteckten sich in den Wäldern, weil sie dachten, sie sollten zu Arbeitseinsätzen verschleppt werden, ihre Familien seien sicher. Als sie zurückkamen, fanden sie brennende Häuser und Leichenberge. “Am Abend weinten alle Männer”, berichtet Siria Pardini (83), die damals ihre Mutter und zwei Schwestern verloren hat.

Im Campo della Pace, im Friedenscamp, das vom Land Baden-Württemberg und dem Auswärtigen Amt gefördert wird, treffen die 16 Teilnehmer Überlebende, die den 12. August 1944 als Kinder erlebt haben. Enrico Pieri (85) fährt am ersten Abend über enge Serpentinen in das Bergdorf Pruno, wo die Gruppe untergebracht ist, nur um jede und jeden persönlich zu begrüßen. Von ihm stammt die Einladung: “Kommt alle nach Sant’Anna”. Junge Menschen sollen verstehen, aus welcher Zeit das heutige Europa entstanden ist, um dann für ein menschlicheres Europa zu kämpfen.

Zwei Tage später trifft die Gruppe ihn in Pietrasanta, von wo ein Teil der deutschen Soldaten am 12.8.1944 nachts um drei Uhr nach Sant’Anna aufgebrochen war. Enrico Pieri gibt allen die Hand. Wärme strahlt er aus, Kraft und Herzlichkeit. Er bedankt sich für die Reise nach Sant’Anna, das Dorf mit weit verstreuten Häusergruppen auf 660 Meter Höhe, das 1944 nur über steile Pfade erreichbar war. Sein Dorf, sagt er, “hatte mit dem Krieg gar nichts zu tun.” Die deutschen Soldaten brachten den Tod nach Sant’Anna, er traf die Dorfbewohner ebenso wie die vielen Flüchtlinge aus den umkämpften Gebieten der Region.

Enrico Pieri verlor mit zehn Jahren seine ganze Familie. Er hatte sich versteckt, als die Soldaten seine Eltern, Schwestern, Großeltern, Onkel, Tanten erschossen, weit über 20 Verwandte: “In jenem Moment hatte ich nicht bemerkt, dass ich der einzige war, der übrig geblieben war.”

“Kommt alle nach Sant’Anna” – so lautet die Einladung des Überlebenden Enrico Pieri

Die Traurigkeit von damals spiegelt sich in seinen Augen und in denen seines Sohnes Massimo, der ihn begleitet. Der Vater hat mit ihm nie direkt über sein traumatisches Erlebnis gesprochen, doch er spürte die Last, erzählt er. Bald aber blitzt bei Enrico Pieri wieder sein Kampfgeist auf. Zwei Jahre nach dem Massaker stimmten die Italiener nach dem Krieg darüber ab, ob das Land Monarchie oder Republik sein sollte: “Das war das erste Plakat, das ich mit 12 Jahren anbrachte: Wählt die Republik!”

“Weil man mit Hass nichts erreichen kann”

In den 1970er Jahren schickte er seinen Sohn in der Schweiz auf eine deutschsprachige Schule, “weil man mit Hass nichts erreichen kann, nur mit Liebe”. Italienische Arbeitsmigranten wie er seien diskriminiert und behandelt worden “wie heute die zugewanderten Afrikaner”. All seine Hoffnungen hat er auf Europa gesetzt. “Ihr habt so viel”, sagt er leidenschaftlich zu den jungen Menschen vom Friedenscamp, “viel mehr, als wir je zu träumen gewagt hätten. Es ist wichtig, dass ihr euch dafür einsetzt, das zu behalten oder noch zu verbessern!” Seine Sorge teilt er mit seinem Freund Enio Mancini. Dessen Familie überlebte nur, weil ein Soldat sie laufen ließ: “Was hier in Italien passiert, tut mir physisch weh, dass Hass gesät wird, während im Mittelmeer Menschen ertrinken.”

Petra Quirini, international erfahren in der Erinnerungsarbeit, dolmetscht die Begegnungen und vernetzt das Friedenscamp mit Menschen aus der Region. Seit 2012 hat sie engen Kontakt zu den Überlebenden von Sant’Anna. Von der ersten Begegnung an hatte sie den Gedanken, junge Menschen zu ihnen zu bringen. Den Friedenscamp-Teilnehmern gibt sie die Worte der italienischen Holocaust-Überlebenden Liliana Segre mit auf den Weg. Diese warnt vor dem langsamen Verlust der Demokratie durch Gleichgültigkeit: “Achtet auf den Schmerz der anderen.”

Tafel mit Fotos der am 12. August 1944 getöteten Kinder und Jugendlichen, die man identifizieren konnte

“Wir sind ja hier die Deutschen”

“All diese Kinder”, sagt Clara im Museum in Sant’Anna di Stazzema. Lange steht sie vor der Tafel mit den Fotos der Todesopfer bis 16 Jahren. Wie viele andere wusste sie vor dem Friedenscamp nichts über Sant’Anna di Stazzema, die deutschen Kriegsverbrechen in Italien: “Im Nachhinein ist das erschreckend.” Die Studentin ist berührt von den Begegnungen mit den Überlebenden Enrico Pieri, den Schwestern Siria und Adele Pardini, die als Kind über ihre tote Mutter steigen musste, und mit Enio Mancini, der das Museum gegründet und lange geleitet hat: “Sie sind alle so unglaublich positiv, haben sich geöffnet, mit uns darüber zu reden. Sie hätten jeden Grund, Groll zu hegen.”

Immer wenn die Rede ist von “den Deutschen”, denke sie, “wir sind ja hier die Deutschen”, auch wenn sie sich den Tätern in keinster Weise zugehörig fühle. Sie habe den Eindruck, dass die Erfahrungen im Friedenscamp sie verändern, sagt sie. Sie will sich künftig noch stärker gegen Rechtspopulismus einsetzen.

Sie wurden aus der Kirche gezerrt, erschossen und verbrannt – am 12.8.1944 starben auf diesem Platz weit über 100 Menschen

Nach dem ersten Besuch in Sant’Anna und dem Gespräch mit Enio Mancini führt der Rückweg steil bergauf über einen Pass oberhalb von Sant’Anna. Clara ist froh, “sich den Druck von der Seele zu laufen”. Manche schweigen, viele nutzen die Gelegenheit zum Austausch über das Gehörte, die unerhörte Grausamkeit der deutschen Soldaten, die hier vor 75 Jahren mordeten. “Sie waren jünger als ich”, sagt der 24-jährige Mathe-Student Dominik. Die Brutalität der Kriegsverbrechen kann er kaum zu fassen: “Man denkt, man ist am Abgrund angekommen und dann geht es noch mal tiefer.”

Begegnung mit den Erfahrungen der Überlebenden im Museum von Sant’Anna di Stazzema

Deutsches Wort des Tages: Verantwortung

Auch Lorenzo aus Lucca ist sehr beeindruckt vom Austausch mit den Überlebenden, von ihrer Stärke, trotz ihres Schmerzes mit Jugendlichen aus Italien und Deutschland zu sprechen, sagt er: “Wenn wir das verstehen, wenn wir ihre Gefühle nachempfinden, sollte es möglich sein, nicht das zu wiederholen, was in der Vergangenheit passiert ist.” Lorenzo war kürzlich auch in der KZ-Gedenkstätte Auschwitz. Wie er diese Erfahrungen weitergegeben hat, möchte er es auch mit den Erfahrungen aus dem Campo della Pace tun. Neben der inhaltlichen Arbeit bleibt aber auch Zeit für deutsch-italienischen Austausch über Spiele, das Essen, Alltagsbräuche und gegenseitigen Sprachunterricht. “Verantwortung ist mein deutsches Wort des Tages”, sagt Lorenzo.

Nach dem Besuch im Museum in Sant’Anna schreiben die Teilnehmer ins Gästebuch: “Campo della Pace/Friedenscamp. Danke für diese Form der Erinnerung. Für uns und für immer unbegreiflich.” Schwer zu begreifen und ertragen war für die Überlebenden auch die Tatsache, dass das Kriegsverbrechen für die Täter keine juristischen Konsequenzen hatte. Lange hatte man die Akten über deutsche Kriegsverbrechen in Rom beiseite gelegt – viele sprechen vom “Schrank der Schande”. Mit 60-jähriger Verspätung wurden zehn Angeklagte in drei Instanzen rechtskräftig zu lebenslänglicher Haft verurteilt. 

Buch mit den Erinnerungen Enio Mancinis – mit historischen Fakten und dem juristischen Umgang mit dem Massaker

Doch Deutschland lieferte sie nicht aus, setzte das Urteil nicht um. Es gab eigene Ermittlungen in Stuttgart, aber keinen Prozess. Aus Empörung und Scham nahm damals auch die Stuttgarter Initiative “Anstifter” Kontakt nach Sant’Anna auf. Aus diesen Kontakten hat sich die Idee für das Friedenscamp entwickelt. Enio Mancini sagt noch heute: “Es schmerzt mich sehr, dass dieser deutsche Staatsanwalt gesagt hat, er müsse das Verfahren einstellen, da das Indiz für Grausamkeit nicht gegeben und damit alles verjährt sei.”

In einem späteren Verfahren entschied ein Karlsruher Gericht für einen Beschuldigten aus Hamburg, eine Verurteilung wegen Mord sei durchaus wahrscheinlich. Doch ein Attest über dauerhafte Prozessunfähigkeit beendete jede Chance auf einen Prozess und Urteil. Die Täter konnten als unbescholtene Bürger leben und sterben.

Die Botschaft zum 75. Jahrestag

Enio Mancini sagt das, was er und andere Überlebende immer wieder gefordert haben: “Nie wieder Sant’Anna”. Dies bleibe die stärkste Botschaft für einen Ort wie diesen, “wo die Menschlichkeit mit Füßen getreten wurde”. Alle Länder sollten gemeinsam daran arbeiten: “Nie wieder Sant’Anna. Nie wieder Hiroshima. Frieden, Frieden, Frieden!” 

“Kein Hass und keine Zerstörung mehr” – Dominik, Julia und Dahlia haben ein Lied für die Gedenkfeier in Sant’Anna di Stazzema geschrieben

Dominik, Julia und Daliah haben für die stille nächtliche Gedenkfeier zum 12. August ein eigenes Lied komponiert und getextet: “Mai Piu Sant’Anne” – nie wieder Sant’Anna. “Wir sprachen, lachten und wir weinten”, heißt es da, “wir sind gewachsen. Es ist eine Welt, zu der wir gehören, lasst den Hass hinter euch.” Das Lied betont die Stärke Enrico Pieris, dankt den Pardini-Schwestern, die mit ihnen Blumen für das Gedenken pflückten, und die engagierten Appelle von Enio Mancini. Das Gespräch mit ihm floss in den Refrain. Wie er die Chancen für den Weltfrieden einschätze, hatten ihn die jungen Leute gefragt. “Es ist eine Utopie” hat er geantwortet, “an die man einfach glauben muss”.