Deutscher Beitrag: “Das freiwillige Jahr” im Wettbewerb von Locarno

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Die Internationale Konkurrenz ist stark. Im Rennen um den Goldenen Leoparden von Locarno hat der Film von Ulrich Köhler und Henner Winckler trotzdem gute Chancen. Erzählt wird eine Geschichte aus der deutschen Provinz.

“Vielleicht gut, wenn sie endlich jemand mal überfordern würde”, knallt Urs, Landarzt und alleinerziehender Vater, dem früheren Lehrer seiner 18-jährigen Tochter Jette vor dem Latz. “Ihr habt das jedenfalls nicht getan”, fügt er knallhart hinzu, während er routiniert ein Rezept unterschreibt. Sätze, die verankert sind in einem Weltbild, das widersprüchlicher nicht sein kann.

Der Film “Das freiwillige Jahr” des Regie-Duo Ulrich Köhler und Henner Winkler – beide Jahrgang 1969 – erzählt eine auf den ersten Blick alltägliche Vater/Tochter-Geschichte, wie sie fast überall in Deutschland, an jedem Ort, stattfinden könnte. Und doch hat sie viel mit dem Sozialgefüge einer deutschen Provinzstadt zu tun. Erwartungen der Familie, der engsten Freunde türmen sich – meist unausgesprochen – zu Ausstiegsbarrieren auf.

Ausstieg aus der Bevormundung

Urs, durchtrainierter Leistungssportler und in seinem Heimatort als “Herr Doktor” etabliert, fährt seine Tochter Jette zum Flughafen. Sie will ein freiwilliges Soziales Jahr in Costa Rica antreten, ihr Gepäck sieht eher nach Weltreise aus. Die behutsame Kameraführung von Patrick Orth liest aufmerksam in ihrem jungen Gesicht: ernst schaut sie in den Ferne, kreuzunglücklich. Reisefreude sieht anders aus.

Mit Freund im Auto statt im Flieger: Maj-Britt Klenke spielt die 18-jährige Jette

Ein ungeplanter Abstecher zu seinem abgewrackten Bruder durchkreuzt die Zeitpläne von Urs, der weder Aufschub noch Widerspruch duldet. Er lässt Jette mit ihrem Freund Mario weiterfahren. Hier nimmt die Geschichte eine alles entscheidende Wende – und das Familiendrama seinen Lauf.

Jette – zwischen Abenteuerlust und Liebeskummer gebeutelt – entscheidet sich, ihren Flug sausen zu lassen. Und haut ab – mit Papas Auto und ihrem verdutzten Freund am Steuer. Kameratechnisch ab da eine Herausforderung, erzählt Regisseur Köhler: “Uns hat die Idee gereizt, ein Kammerspiel im Auto zu drehen. Das war die Grundidee. Und wir wollten beide einen sehr Schauspieler-orientierten Film machen.”

Kamera als ständiger Begleiter

Flüchtig gedrehte Szenen, die einen abgehetzten Urs im Dauerlauf zum Abflugterminal im Hintergrund zeigen, wirken wie eine filmische Überblendung. Die starke Kamerarbeit von Patrick Orth arbeitet subtil und vielschichtig. Vieles wird nur angedeutet, arbeitet mit Lichtstimmungen, Wechsel der Blickwinkel, und erklärt sich erst später aus winzigen Details, die das Bild allmählich vervollständigen.

Arzt statt Revoluzzer: Hauptfigur Urs

Die verwaschene Tschibo-Bettwäsche im Kinderzimmer, das links-alternative Küchenchaos, kontrastiert durch die gut funktionierende, klinisch ausgeleuchtete Arztpraxis, in der Urs ganz klar der Chef ist. Die selbstgebeizten Holzregale zu Hause, vollgestopft mit endlosen Ordnerreihen, erzählen eine andere, sehr private 68er-Geschichte. Inzwischen gehört Urs selbst zum Establishment, das er als Student politisch bekämpft hat.

Eingespielte Teamarbeit

Regisseur Ulrich Köhler hat bislang alle seine Filme mit Kameramann Orth gedreht. Die beiden sind ein eingespieltes Team, haben gemeinsam eine starke Bildsprache entwickelt, die extrem undramatisch und in einer poetischen Kargheit daher kommt. Die internationale Filmkritik hat dafür längst den Begriff “Berliner Schule” etabliert, zu der auch Christian Petzold, Christoph Hochhäusler und Thomas Aslan gehören.

Auch Henner Winckler, Drehbuchautor und Filmemacher, gehört zu dieser eingespielten Combo und wird der “Berliner Schule” zugerechnet. Kamermann und beide Regisseure kennen sich schon seit dem Studium, erzählt Köhler im DW-Interview: “Wir sind eine Gruppe von 5,6, kreativen Menschen, die zusammen in einer Filmklasse an der Kunsthochschule in Hamburg waren. Patrick Orth hat auch mit uns studiert.”

Reibungsenergie als Kraftquelle

Ihr Film “Das freiwillige Jahr” ist atmosphärisch extrem dicht – und trotzdem sehr unterhaltsam. Tragische Momente wechseln sich mit starker Situationskomik ab. Köhler und Winckler haben alles von Drehbuch an zusammen entwickelt, als Regie-Duo gedreht, und zusammen geschnitten.

Die Regisseure (links) bei der Pressekonferenz in Locarno

Beide sehen das als klaren Zugewinn ihrer bisherigen Filmarbeit, auch wenn ihre bisherige Arbeitsweise am Set an ihre Grenzen kam. “Das Problem beim Dreh ist, dass man unter einem wahnsinnigen Zeitdruck steht. Wir dachten eigentlich, wir besprechen jede Szene in Ruhe, aber das war nicht möglich”, berichtet Henner Winckler selbstkritisch. “In einer Drehsituation, wo 20 Leute warten, dass es weitergeht, und wir fangen an Details zu diskutieren, passiert es schnell, dass viele nervös werden.”

Zwiespalt einer Mädchen-Generation

Die unterhaltsame Geschichte hat immer wieder ihre Untiefen und weckt bei den Zuschauern in Locarno starke Gefühle. Manchmal möchte man die unentschlossene Jette schütteln, mal dem übergriffigen Vater Urs entgegenhalten: Lass deine Tochter endlich ihren eigenen Weg gehen. Schauspielerin Maj-Britt Klenke hatte selbst ein ambivalentes Verhältnis zu ihrer Figur, erzählt sie auf der Pressekonferenz in Locarno: “Mich hat dieses Mädchen auch ganz schön genervt, in ihrem ewigen Nichts-auf-die-Kette kriegen.”

Jette verkörpert in diesem Film eine zwiegespaltene Generation von jungen Mädchen: tough, mutig, Fussball spielend und doch an den Rollenmodellen der Eltern verzweifelnd. Ihr energischer Gang, wenn sie furchteufelswütend nach einem Streit mit Mario über den Sportplatz stapft, ist der eines Jungen – die Hände in der Jackentasche wildentschlossen zu Fäusten geballt. Wenn sie von ihrem Vater etwas haben will, wird ihre Stimme extrem mädchenhaft – ihre Waffe gegen seine ewige Männer-Dominanz.

Komische und dramatische Szenen wechseln sich in “Das freiwillige Jahr” ab

Faktor Zeit als Qualitätsmerkmal

Ausnahmsweise ist diese Produktion kein frei finanzierter Autorenfilm, sondern eine Koproduktion mit einem Fernsehsender (WDR/Köln). In Locarno läuft er als einziger deutscher Film im Internationalen Wettbewerb des renommierten Schweizer Filmfestivals. Viel Beifall gab es bei der Weltpremiere am Samstag (10.8.2019), die Chancen auf einen Goldenen Leoparden sind gut.

Auflagen gab es keine, aber das knapp kalkulierte Budget machten interne Sparmaßnahmen unumgänglich, um genügend Zeit für Proben und notwendige Neudrehs zu garantieren, die die beiden Regisseure für ihre intensive Arbeit brauchten. Für Hauptdarsteller Sebastian Rudolph (Urs) eine eher ungewohnte Arbeitsweise. “Für mich war es interessant, mit zwei Regisseuren zu arbeiten. Dadurch ist nochmal ein anderes Spannungsfeld entstanden, weil man als Schauspieler viel weniger klar definiert, wie die Figur denn nun sein soll. Und dadurch mehr Spielenergie entsteht.”

Auch Ulrich Köhler ist mit dem Wagnis dieser intensiven Drehbuch- und Regiearbeit zusammen mit Henner Winckler sehr zufrieden. “Das unterscheidet ihn auch von den Filmen, die ich bisher gemacht habe und die Henner gemacht hat. Ich sehe das als kreative Synergie, die sehr positiv ist. Und die sich hoffentlich weiter positiv auf unser weiteres Filmschaffen auswirken wird.”