Reitsport: Chancengleichheit auf vier Hufen

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Im Reitsport werden Frauen und Männer nicht nach Geschlecht getrennt. Was in anderen Sportarten sein muss, damit Männer keine Vorteile haben, ist im Reiten nicht nötig. Es geht mehr ums Gefühl, als um Kraft und Ausdauer.

Während in den meisten Sportarten Frauen und Männer getrennt werden, macht man im Reiten keinen Unterschied zwischen den Geschlechtern. Der Pferdesport ist damit die einzige olympische Sportart, in der Männer und Frauen in gemeinsamen Konkurrenzen gegeneinander antreten – in der Dressur, dem Springreiten und der Vielseitigkeit.

“Das ist vollkommen in Ordnung so”, sagt Otto Becker, der Bundestrainer der deutschen Springreiter. “Mittlerweile sind die Frauen ebenbürtig. Auch die Pferde sind von der Zucht her immer moderner und leichter geworden, so dass beide Geschlechter die gleichen Chancen haben.”

Mehr Koordination als Kraft

In anderen Sportarten ist die Trennung nach Geschlechtern deshalb richtig, weil es – mehr als auf dem Pferderücken – auf Kraft, Ausdauer und Schnelligkeit ankommt. Dabei sind die Männer den Frauen in der Regel überlegen. Im Reiten aber fallen diese Fähigkeiten weniger stark ins Gewicht, es geht mehr um Koordination und Beweglichkeit. Und hier haben Frauen keinen Nachteil gegenüber den Männern. “Reiten ist eine ganz komplexe Geschichte. Es stellt wie alle Gleichgewichtssportarten hohe koordinative Ansprüche”, erklärt Matthias Bojer, Pferdesport-Experte an der Deutschen Sporthochschule Köln und selbst Springreiter. “Die Maximalkraft ist nicht der entscheidende Faktor, sondern koordinative Effekte und auf ganz feiner Ebene mit dem Pferd zu kommunizieren.”

Das bestätigt auch die aktuelle Weltmeisterin Simone Blum, die beim CHIO in Aachen auf ihrer Stute Alice im Nationenpreis mit der deutschen Equipe den zweiten Platz errang. “Ein Pferd wie Alice ist unheimlich fein und leicht zu reiten”, sagt die 30-Jährige. “Da muss man keine Klimmzüge drauf machen oder extrem viel Beinkraft aufwenden.”

Lange Hebel, andere Belastungen

Blums Teamkollege Marcus Ehning geht sogar noch weiter: “Reiten ist absolut kein Kraftsport”, sagt er der DW. “Dementsprechend sind keine männlichen Stärken gefragt, sondern es geht einfach um das Gefühl fürs Pferd.” Und davon besitzt Ehning, der im vergangenen Jahr in Aachen auf seinem besten Pferd Pret A Tout den Nationenpreis und den Großen Preis gewann, jede Menge.

Erfolgreiches Paar: Marcus Ehning auf Pret A Tout nach seinem Sieg im Großen Preis von Aachen 2018

“Marcus Ehning ist einer der gefühlvollsten Reiter der Welt”, bestätigt Matthias Bojer. “Er ist in der Lage, mit sehr wenig körperlichem Aufwand tolle Wettkampfergebnisse zu erzielen, weil er stilistisch so toll auf dem Pferd sitzt.” Dagegen, so Bojer, gebe es Beispiele sehr kämpferisch reitender Frauen, die in der Wettkampfsituation viel mehr zupackten als mancher Mann. Die Unterschiede lägen eben nicht im Geschlecht begründet, sondern in Größe und Gewicht der Reiterinnen und Reiter.

“Wenn man Ludger Beerbaum als Beispiel nimmt, also einen großgewachsenen, schlanken Kerl, dann wirken bei ihm ganz andere Belastungen als bei kleinen, leichten Reitern wie Marcus Ehning”, erklärt Bojer. Das habe sehr viel mit Hebeln zu tun, die aufgrund eines längeren Oberkörpers und längerer Gliedmaßen anders seien. “Leute wie Ludger Beerbaum müssen ganz sicher etwas für sich tun, um diese großen Hebel mit allem in Balance zu halten und auch, um Verschleißerscheinungen vorzubeugen.”

Blum: “Laufen gehen ist ein Muss”

Ganz egal ob groß oder klein, Mann oder Frau, gilt aber eines: “Ganz sicher sprechen wir im Spitzenbereich von richtigen Sportlern, die fit sein müssen”, sagt Bojer, der an der Sporthochschule zahlreiche Untersuchungen zur körperlichen Belastung von Reitern und Pferden durchgeführt hat und seit Jahren eine Entwicklung zur Professionalisierung feststellt: “Das Verständnis der Reiter, sich als Sportler zu verstehen, ist viel größer geworden.”

Weltmeisterin Simone Blum trainiert lieber im Sattel ihrer Pferde als auf der Joggingrunde

So gut wie alle Spitzenreiter trainieren heute nicht nur im Sattel, sondern machen Ausgleichssport, um sich fit zu halten – teilweise sogar mit Personal-Trainern, auch die Hilfe von Mentaltrainern wird vereinzelt in Anspruch genommen. “Wenn man einem Reiter vor 20 oder 30 Jahren gesagt hätte: ‘Du musst etwas für dich machen: Laufen, Ausgleichsgymnastik, oder ähnliches'”, sagt Bojer und schmunzelt, “ich glaube, dann hätte man wenig Resonanz bekommen.”

Das hat sich grundlegend geändert. “Dass wir Laufen gehen, ist natürlich immer ein Muss”, sagt Simone Blum, gibt aber gleichzeitig zu, dass ihr das Training im Sattel besser gefällt als der für den Erfolg notwendige Ausgleichssport. Ein spezielles Krafttraining macht Blum nicht, andere Reiterinnen und Reiter dagegen schon.

Becker: “Immer mehr Frauen reiten erfolgreich”

Die deutsche Weltmeisterin ist eine von nur 14 Frauen, die beim CHIO Aachen 2019 im Springreiten antritt. Dagegen stehen 51 Männer. Allerdings schlägt sich dieses Missverhältnis nicht unbedingt in den Ergebnislisten wieder: Im Nationenpreis siegte Schweden, eine Equipe, die mit zwei Frauen und zwei Männern besetzt war. Beim deutschen Team lieferten Blum und Alice mit zwei Nullrunden das beste Ergebnis.

Zweimal ganz nah dran: Luciana Diniz

Zwar haben seit 1927 erst fünf Frauen die wichtigste und schwerste Prüfung des Aachener Turniers, den Großen Preis, gewinnen können, doch trugen sich drei dieser fünf Reiterinnen – darunter Meredith Michaels-Berbaum – in den Jahren seit 2005 in die Siegerliste ein. Die Portugiesin Luciana Diniz wurde in den vergangenen beiden Jahren jeweils nur knapp geschlagen Zweite. Das Verhältnis schlägt also immer mehr zu Gunsten der Frauen um.

Bundestrainer Otto Becker geht davon aus, dass es ohnehin nur eine Frage der Zeit ist, bis noch mehr Frauen im Spitzenreitsport ankommen. “Wenn Sie heute in die Reitvereine gucken, da sind 95 Prozent Mädchen, und genauso ist das auch auf den Turnieren”, sagt er. “Es werden es immer mehr Frauen, die reiten. Sie reiten sehr erfolgreich, und sie gewinnen.”

Beckers Schützling Marcus Ehning sieht die geschlechtsunabhängige Chancengleichheit im Reiten sogar doppelt gegeben: im Sattel, aber auch darunter: “Bei uns gibt es Stuten, Wallache und Hengste – die starten auch alle zusammen”, sagt er scherzhaft. “Ich sehe da wirklich keinen Unterschied.”