Der Holocaust und der deutsche Pass

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Seit dem Brexit-Entscheid 2016 beantragen tausende britische Juden, deren Vorfahren aus Nazi-Deutschland entkommen konnten, einen deutschen Pass. Doch viele bekommen eine Absage. Aber es gibt auch gute Nachrichten.

Baroness Rabbi Julia Neuberger will seit dem Brexit-Referendum 2016 die deutsche Staatsangehörigkeit und somit einen europäischen Pass. Mit dem Mädchennamen Julia Schwab wurde die prominente Rabinnerin 1950 in London geboren, als Kind einer jüdischen Mutter, die Nazi-Deutschland noch verlassen konnte und nach England floh. Neuberger fühlt sich als Europäerin mit deutscher Mutter, die aus Deutschland fliehen musste. “Doch von der deutschen Botschaft in London bekam ich immer eine Ablehnung”, erzählt sie im Gespräch mit der Deutschen Welle. 

Bewunderung für Deutschland

“Es macht mich nicht weniger britisch, aber es erlaubt mir, ein wenig von meiner Geschichte zurückzugewinnen”, begründete Neuberger  2016 ihr Bemühen um einen deutschen Pass. Und sie bewundere Deutschland dafür, “wie es mit seiner nationalsozialistischen Vergangenheit umgegangen ist.” 

Jüdische Flüchtlinge aus Deutschland bei der Ankunft in Southampton 1939

Die Rabbinerin kennt noch andere britische Juden, die die gleiche Situation erlebt haben. Sie alle haben Vorfahren, die vor Nazi-Deutschland fliehen mussten – und die nun angesichts des Austritts Großbritanniens aus der EU einen europäischen Pass wollen. Aber die meisten erhielten nur eine Absage. “Wir alle halten das für unfair und diskriminierend”, sagt Neuberger.

Über 100 Fälle

Die englische Tageszeitung “Guardian” berichtete am Mittwoch von mehr als 100 britischen Jüdinnen und Juden, die sich als Nachkommen jüdischer Flüchtlinge vor dem Nazi-Regime seit 2016 um einen deutschen Pass bemühen und bislang gescheitert sind.

Juden in einer Londoner Synagoge

Es ist die andere Seite des Brexit-Entscheids vor drei Jahren. Unmittelbar danach beantragten mehrere hundert britische Juden die deutsche Staatsbürgerschaft, um zumindest als zweiten Pass ein Dokument der Europäischen Union zu haben. Noch 2015 strebten lediglich 43 Briten die deutsche Staatsbürgerschaft an. 2017 betrug die Zahl 1667 – knapp 40 Mal soviel. Wie viele Ablehnungen es tatsächlich sind, kann derzeit niemand genau sagen. Das Bundesverwaltungsamt, das für diese Verfahren zuständig ist, spricht auf Anfrage davon, Ablehnungen seien “sehr selten”.

Das Grundgesetz

Die Hoffnungen der jüdischen Briten gründen im deutschen Grundgesetz. Dessen Artikel 116-2 lautet im Kern: “Frühere deutsche Staatsangehörige, denen zwischen dem 30. Januar 1933 und dem 8. Mai 1945 die Staatsangehörigkeit aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen entzogen worden ist, und ihre Abkömmlinge sind auf Antrag wieder einzubürgern.”

Die Verbundenheit zur jüdischen Gemeinschaft ist jeder Bundesregierung in Deutschland wichtig.

Doch diese Zusage des Grundgesetzes wurde durch weitere gesetzliche Regelungen im Laufe der Zeit konkretisiert und  eingeschränkt. Und nach geltender Gesetzeslage konnten eheliche Kinder, die zwischen 1914 und 1963 geboren wurden, die deutsche Staatsangehörigkeit nur von ihrem deutschen Vater erwerben. Erst ab dem 1. Januar 1975 geborene eheliche Kinder erwarben die deutsche Staatsangehörigkeit durch Mutter oder Vater. Für diejenigen, die – wie Julia Neuberger – als Kind einer geflohenen jüdischen Mutter vor 1963 geboren wurden, blieben nur Ausnahmeregelungen, um Staatenlosigkeit zu verhindern, oder Übergangsfristen, die aber längst abgelaufen sind. Und dieser Ablauf wurde auch schon höchstrichterlich bestätigt. Das Bundesverfassungsgericht urteilte dazu 1974. Einige Jahre später endeten die Übergangsfristen.

“Ausnahmen zulassen”

Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München

Jüdische Organisationen in Großbritannien und Deutschland kennen das Dilemma seit langem. Die frühere Präsidentin des Zentralrats der Juden, Charlotte Knobloch, erlebte in ihrem erweiterten Familienkreis noch vor der Brexit-Frage, einen ähnlichen Fall. Er wurde letztlich gerichtlich zugunsten der Verwandten entschieden. Und der heutige Präsident, Josef Schuster, räumte Anfang des Jahres in einem Zeitungsinterview ein, die Gesetzeslage sei “leider ebenso eindeutig wie für Einzelne unbefriedigend”. Deshalb bleibe nur der Weg, “dass zuständige Behörden in Einzelfällen, vor allem wenn es auch um Wiedergutmachungsansprüche geht, ihren Ermessensspielraum zugunsten der Betroffenen nutzen und Ausnahmen zulassen”.

Ähnlich äußert sich der Präsident der Europäischen Rabbiner-Konferenz, Oberrabbiner Pinchas Goldschmidt. Angesichts des dunklen Kapitels der deutschen Geschichte hätte er sich in dieser Frage “mehr Taktgefühl und historisches Bewusstsein von den deutschen Behörden erwartet, statt strikt formaljuristisch zu argumentieren“, sagte er der Deutschen Welle. Eigentlich sollte sich Deutschland doch darüber freuen, dass Nachfahren von während des Dritten Reiches verfolgten Juden wieder die deutsche Staatsbürgerschaft annehmen wollen – weil sie Deutschland wieder vertrauen. “Es wäre schön, wenn hier für die Betroffenen eine unbürokratische Lösung gefunden wird, die der besonderen historische und politischen Verantwortung Deutschlands gerecht wird”, so Goldschmidt. 

Stefan Ruwwe-Glösenkamp, Sprecher des Bundesinnenministeriums erklärt, es werde vor diesem Hintergrund “gegenwärtig geprüft”, ob und auf welche Weise heute noch nachwirkende Folgen beim Staatsangehörigkeitsrecht “abgemildert oder beseitigt werden können”. Die Überlegungen zu einer sachgerechten Lösung seien wegen der Komplexität dieser Problematik “noch nicht vollends abgeschlossen”.

Gute Nachrichten

Bis hierhin war die Geschichte geschrieben. Dann kam eine erfreuliche Mail aus London. “Quick update”, schreibt Julia Neuberger, die Rabbinerin mit der Liebe zu Deutschland. “Ich habe gerade meine Staatsbürgerschaft bekommen – heute!”. Sie ist 67 Jahre alt. Und nun auch Deutsche.