Juri Dud versus Josef Stalin: Ein YouTuber sucht die Quelle russischer Urangst

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In seiner Doku “Kolyma” erforscht der russische Youtuber Juri Dud die Folgen des Stalin-Terrors. Seit April wurde der Film mehr als 15 Millionen Mal geklickt.

“Kolyma ist nicht Vergangenheit”: Jurij Dud an dem Drehort seines Films

“Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber ich höre schon mein Leben lang von meinen Eltern: Sei vorsichtig, fall nicht auf, das ist gefährlich. Und überhaupt: Wir sind kleine Schrauben, von uns hängt nichts ab. Dabei sind meine Eltern wunderbare Menschen. Ich will begreifen: Woher kommt diese unheimliche Angst bei der älteren Generation? Warum sind sie fest davon überzeugt, dass Mut, egal wie gering er ist, unbedingt bestraft wird?”

Diese Fragestellung ist der Ausgangspunkt von Juri Duds Film”Kolyma – die Heimat unserer Angst”. In seiner zweieinhalbstündigen Dokumentation, die auf YouTube zu sehen ist, untersucht der Moskauer YouTube-Star Dud die “russische Urangst” vor der Obrigkeit – und damit auch die Ursprünge des politischen Fatalismus und der sozialen Passivität eines Großteils der Gesellschaft.

Der Große Terror und seine Folgen

Duds These lautet: Die Ursachen sind im Terror der Stalinzeit zu suchen, dem dunkelsten und weitgehend unaufgearbeiteten Kapitel russischer Geschichte des 20. Jahrhunderts. Über 16 Millionen unschuldiger Menschen wurden als mutmaßliche Gegner des Regimes ihrer Freiheit und Gesundheit beraubt und unter unmenschlichen Bedingungen zur Knochenarbeit in Straflagern gezwungen, mindestens zwei Millionen von ihnen starben (genaue Zahlen bleibt die Geschichtsforschung noch schuldig, viele Geheimarchive sind bis jetzt geschlossen). Das ganze Land wurde von Anfang der 1930er Jahre bis zu Stalins Tod 1953 in eine Schockstarre versetzt. Eine richtige Aufarbeitung fand jedoch nie statt, und so bleibt Stalin in den Augen vieler Russen, besonders der älteren Generation, bis heute eine ambivalente Figur, die nicht nur mit dem Genozid gegen die eigene Bevölkerung, sondern auch mit dem Sieg im Zweiten Weltkrieg in Verbindung gebracht wird.

“Der große Führer”: Neostalinismus macht sich in Russland breit

Juri Dud aber geht es letztendlich nicht um die Elterngeneration. Seine Zielgruppe sind die Jüngeren. So war der entscheidende Denkanstoß für sein “Kolyma”-Projekt eine Umfrage, laut derer über die Hälfte der Bürger Russlands zwischen 18 und 24 Jahren noch nie etwas von Stalins Repressionen gehört haben wollen. Kein Wunder: Schulbücher wie offizielle Massenmedien machen einen großen Bogen um das schwierige Thema. “Das haben wir als Herausforderung genommen”, so Dud im Intro zu seinem Film.

Doch wer ist eigentlich dieser Juri Dud – dieser 32-Jährige, der in alten Wunden bohrt?

Juri Dud: vom Sportjournalisten zum YouTube-Star

Dud ist ein Wunderkind der russischen Medienwelt. Bereits mit Anfang 20 machte sich der schmale junge Mann, den eine asthmatische Erkrankung an einer Fußballerkarriere hinderte, einen Namen als Sportjournalist. Aber Dud wollte mehr und konnte es auch. Er avancierte zum Vorkämpfer des russischen Digitaljournalismus. Seit 2017 läuft seine Interview-Show “vDud” auf seinem eigenen YouTube-Kanal mit mittlerweile 5,6 Millionen Abonnenten. Vom kremlnahen Regisseur Nikita Michalkow bis zum Oppositionspolitiker Alexei Nawalny – keiner ist vor dem zynischen, witzigen und stets extrem gut vorbereiteten Interviewer sicher. Ein Gespräch ist für Dud stets ein Duell, dessen Ausgang bis zur letzten Minute unentschieden bleibt.

Kolyma: auf den Spuren der Urangst

Mit “Kolyma” betritt Juri Dud nun wieder neues Terrain. Er begibt sich auf eine Recherche, die ihn zu Historikern und Heimatforschern, aber auch zu den Nachkommen der Terroropfer führt. Unter ihnen ist Natalia, die Tochter von Sergej Koroljow. Der Wissenschaftler und Weltraumpionier war Opfer des Großen Terrors. Mit atemberaubender Präzision und Eindringlichkeit berichtet die zierliche alte Dame davon, was ihre Familie und sie selbst als Kind des “Volksverräters” erlitten haben.

Der Terror machte vor keinem Halt: Jurij Dud im Gespräch mit Natalia Korolewa

Um dem Geist der damaligen Zeit physisch nachzuspüren, reist Dud auch an die Orte, wo der Terror sich abgespielt hat: Mit seinem Team fährt er von Magadan am Pazifik 2000 Kilometer durch die eisige Landschaft bis nach Jakutsk, entlang des Kolyma-Stroms und der gleichnamigen Trasse, die einst von Gulag-Häftlingen gebaut wurde. Das Wort “Kolyma” ist ein Synonym für das Stalinsche Lagersystem. Die Spurensuche vermischt sich mit Road-Movie-Elementen mit hohem Unterhaltungsfaktor; Begegnungen mit Einheimischen sorgen für regelmäßige Entspannung zwischen den Horror-Episoden. Ein Eis am Stiel bei minus 50 Grad? “Eis kommt ja aus dem Kühlschrank und ist nur minus 15 Grad kalt – also wärme ich mich auf!”, kommentiert ein junger Gesprächspartner.

Angst überwinden, Zukunft gestalten

“Angst ist eine klebrige Substanz, die wird man sehr schwer los”, sagt im “Kolyma”-Film Efim Schiffrin. Der renommierte Schauspieler und Komiker wurde als Sohn eines Terror-Opfers in Magadan geboren und damit vom lebenslangen Urangst-Bazillus angesteckt, wie er selbst zugibt.

“‘Kolyma’ ist nicht unsere Vergangenheit, es ist unsere Gegenwart”, behauptet Juri Dud am Ende seines Films: “Angst ist der Hauptfeind der Freiheit.” Eine Befreiung vollziehe sich über Wissen um die Vergangenheit und Respekt – sich selbst und den anderen gegenüber. “Nur so machen wir unser Land zukunftsfähig.”

“Juri, vergiss die Promis – füll das Internet mit Geschichtsaufarbeitung, das ist es, was wir jetzt brauchen!”, lautet ein Kommentar eines Users, stellvertretend für 15,1 Millionen andere, die den “Kolyma”-Film bis jetzt (Stand Mitte Juni 2019) gesehen haben.