Ukrainer und Polen: Welche Milch schmeckt besser?

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Die polnisch-ukrainische Grenzregion profitiert wirtschaftlich von ihrer geografischen Lage. Doch die Menschen auf beiden Seiten leben mit den Traumata der Geschichte – und pflegen weiterhin ihre Vorurteile.

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Ukrainer im Grenzgebiet: “Alle sind in Polen”

Die maroden Pflastersteine vor dem Rathaus im ukrainischen Mostyska müssten dringend erneuert werden. Auch die beiden Bänke in der kleinen Grünanlage vor dem Gebäude sehen aus, als wären sie viel zu lange nicht mehr gestrichen worden. Aber wer soll das machen?        

“Noch vor zwei Jahren, als wir mit der Renovierung dieses kleinen Platzes vor dem Rathaus angefangen haben, gab es vier Brigaden von jeweils fünf Arbeitern. Jetzt finde ich keine Leute mehr für diese Jobs”, ärgert sich Bürgermeister Serhij Storoschuk. Offiziell leben in Mostyska 9.000 Menschen, in Wirklichkeit sind es aber weniger, weil viele im Nachbarland Polen arbeiten. Die EU-Grenze liegt nur 15 Kilometer weiter westlich.  

“Wenn es so weitergeht, werden in Mostyska nur noch drei Leute arbeiten: der Bürgermeister, der Gemeindevorsteher und der lokale Regierungsvertreter. Sonst werden nur noch Rentner in der Stadt bleiben”: Dieser Witz werde in seiner Stadt immer öfter erzählt, sagt Serhij Storoschuk. Doch die Grenzlage bietet auch finanzielle Vorteile für die Menschen in Mostyska: “200 bis 300 Einwohner fahren jeden Tag über die Grenze, da verdienen sie wenigstens ein paar Euro.” 

Serhij Storoschuk findet keine Arbeitskräfte mehr für seine ukrainische Stadt

Der kleine Grenzhandel       

Die Busfahrt bis zur ukrainisch-polnischen Grenze dauert nur eine halbe Stunde. Die Läden mit Alkohol und Zigaretten werden hier wie im Englischen “Shops” genannt, man spürt schon, wie der Westen näher rückt. Hier kostet eine Zigarettenpackung knapp einen Euro, doch ein paar Hundert Meter weiter, auf dem polnischen Grenzbasar von Medyka, schon doppelt so viel. Wer besonders mutig ist, kann ukrainischen Wodka von fraglicher Herkunft zu einem Spottpreis kaufen.     

Über die Grenze nach Polen darf man einen Liter Wodka und zwei Packungen Zigaretten mitnehmen. Für eine “Ameise” –  wie die Pendler am Fußgängerübergang genannt werden – kann jeder Weg über die Grenze einen Gewinn von ein paar Euro bringen. Von diesem Geld kaufen viele gerne polnische Lebensmittel auf der anderen Seite der Grenze. “Vor allem Quark, Milch und manche Fleischsorten schmecken besser”, hört man von Frauen und Männern mit schweren Taschen, die zu Fuß über die Grenze in die Ukraine zurückgehen.  

Wer mit dem Auto unterwegs ist, kann mehr in die Ukraine mitnehmen. Zollfrei sind Waren bis zu 500 Euro und bis 50 Kilo. Die polnischen Lebensmittel landen auf den Märkten für wohlhabende Ukrainer und in den Restaurants von Lwiw (Deutsch: Lemberg). In Richtung Ukraine werden auch alte, aber immer noch funktionierende Elektrogeräte transportiert, die man vorher deutschen Recyclingunternehmen abgekauft hat. 

Gemeinsame Logistik, gemeinsame Geschichte

Wer Geld hat, kauft auf der polnischen Seite oft große Mengen Lebensmittel oder Haushaltsgeräte, wenn es gerade günstige Angebote gibt. Dann werden sie Stück für Stück in die Ukraine transportiert – jeweils in Mengen, die noch zollfrei sind.

Izabella Tomaszewska: “Die Ukrainer werden hier bestimmt gerne arbeiten”

Das Handels- und Logistikzentrum in der polnischen Stadt Korczowa bietet dafür Lagerflächen. “Hier werden nicht nur Waren gelagert. Wir haben inzwischen auch Discountläden in unseren Hallen und bald werden wir hier auch Küchenrolle herstellen. Die Ukrainer werden hier bestimmt gerne arbeiten”, sagt die Geschäftsführerin Izabella Tomaszewska.      

Besonders stolz ist sie auf die Feierlichkeiten zu Ehren des Autors der ukrainischen Nationalhymne, Mychajlo Werbyzkyj, die Jahr für Jahr in Korczowa stattfinden. Er war dort Pfarrer und ist wenige Hundert Meter weiter begraben. Die polnischen Eigentümer des Logistikzentrums organisieren diese Veranstaltung mit. Izabella Tomaszewska bezeichnet sie als “polnisch-ukrainisches Treffen von Menschen, denen die Geschichte am Herzen liegt”.  

Auf diese Treffen freut sich Hanna Wanio Jahr für Jahr. Sie lebt auf der anderen Seite der Grenze, im ukrainischen Krakowez, und kauft regelmäßig auf der polnischen Seite ein. Die Rentnerin hat polnisch-ukrainische Wurzeln. “Ich kann mich mit den Polen gut verstehen, es gab nie Probleme. Ich bin froh, dass ich an der Grenze lebe und pendeln kann.” Es stört sie aber, dass Politiker die Menschen manchmal “gegeneinander ausspielen”.     

Nationalistische Spannungen

Hanna Wanio war bestürzt, als mehreren Ukrainern der Zutritt zum Parkplatz auf der polnischen Seite der Grenze verweigert wurde. Es ging um eine Gruppe ukrainischer Studenten, die sich 2014 im polnischen Przemyśl (Deutsch: Prömsel) auf einer Party mit der rot-schwarzen Flagge der Ukrainischen Aufständischen Armee fotografiert hatten. Diese in Polen verpönte Partisanenorganisation war 1943 für das Massaker an der polnischen Bevölkerung in der Region Wolhynien verantwortlich.

Hanna Wanio pendelt regelmäßig über die Grenze

Bis heute hängt an der Einfahrt des Parkplatzes das Foto der Studenten mit dem Vermerk “Zutritt verboten”. Oben weht die polnische Nationalfahne. “Es gibt Ukrainer, die glauben, dass diese Region zur Ukraine gehören sollte. Ich will zeigen, dass hier Polen ist”, erklärt Tadeusz Jakubowski, der Besitzer des Parkplatzes. Wenn ukrainische Fahrer anreisen, kommandiert er sie herum und duzt sie. Zu polnischen Fahrern ist er höflicher.   

Engagement gegen Vorurteile     

15 Kilometer weiter, im polnischen Prömsel, bemüht sich Tetyana Nakonieczna vom Verband der Ukrainer in Polen um gute Beziehungen zwischen den Nachbarn. Die ethnische Ukrainerin ist in Prömsel aufgewachsen, dann für mehrere Jahre nach Kanada gezogen und 2013 in ihre Heimatstadt zurückgekehrt.     

“Direkt nach meiner Rückkehr erschrak ich über eine historische Nachstellung des Wolhynien-Massakers”, erinnert sich Tetyana Nakonieczna, die in der Region vor allem unter ihrem Mädchennamen Czorny bekannt ist. Damals habe man vor einem Publikum die ukrainischen Mordtaten an den Polen aus dem Jahr 1943 “nachgespielt”. Diese anti-ukrainische Stimmungsmache blieb nicht folgenlos: Drei Jahre später wurden Ukrainer während einer religiös-patriotischen Prozession von polnischen Nationalisten angegriffen.            

Tetyana empfindet die Atmosphäre weiterhin als angespannt. Berichte über polnisch-ukrainische Konflikte habe sie immer zuerst auf russischen Webseiten gelesen: “Das könnte ein Signal sein, dass es sich um einen russischen Einfluss handelt. Ich bin mir sicher, dass Russland daran interessiert ist, den Konflikt anzuheizen.”      

Diese Spannungen wurden immer wieder in lokalen und nationalen Wahlkämpfen thematisiert, vor der Europawahl aber nicht.

Tetyana hat eine Zeit lang in Kanada gelebt

Im östlichen Grenzgebiet Polens scheint die EU-Wahl ziemlich weit entfernt zu sein: Darüber wird eher in Warschau und im Fernsehen gesprochen. Auf vereinzelten Plakaten sind vor allem die Kandidaten der Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) zu sehen. Die südpolnische Region Karpatenvorland gilt als eine der Hochburgen der national-konservativen PiS. Doch hier ist auch vor der Europawahl die Meinung verbreitet, dass die Politiker in Brüssel sowieso keinen Einfluss auf das Alltagsleben der Menschen haben und dass die polnischen Parlamentswahlen im Herbst viel wichtiger sind. 

Tetyana liegt die Verständigung zwischen den Polen und den Ukrainern am Herzen. Sie befürchtet, dass sich die anti-ukrainische Stimmung in Polen verschärft, wenn viele nationalistische polnische Politiker ins Europäische Parlament und später, im Herbst, ins Parlament in Warschau einziehen. Jetzt ist der Kampf gegen Vorurteile ihre Hauptaufgabe. In der Broschüre ihres Verbandes steht, dass es unter den Polen viele tolerante und offene Menschen gibt, dass nicht alle Ukrainer Nationalisten sind und die ukrainischen Frauen nicht in erster Linie im Sexbusiness arbeiten.        

Ukrainer in Polen: “Das Leben hier gefällt uns”  

Tetyanas Freunde, das ukrainische Ehepaar Korpan, leben schon seit 12 Jahren im polnischen Prömsel. “Als wir hierher kamen, gab es keine Konflikte”, erinnert sich Oleh Korpan.

Oleh und Natalia Korpan mit ihrer Tochter Marta

“Wir haben schnell Polnisch gelernt und fühlen uns hier zu Hause. Die Probleme zwischen den Polen und den Ukrainern kommen von oben, vielleicht wollen irgendwelche Leute damit punkten.”          

Hochqualifizierte Fachkräfte wie das Ehepaar Korpan – Oleh ist Arzt, seine Frau Natalia Mathematiklehrerin – werden in Polen händeringend gesucht. Die polnische Wirtschaft boomt, aber seit dem EU-Beitritt des Landes (2004) sind rund zwei Millionen Polen ausgewandert. Oft sind es Ukrainer, die diese Lücken auf dem polnischen Arbeitsmarkt füllen: Heute arbeiten mehr als eine Million ukrainische Staatsbürger in Polen.

Natalia und Oleh verdienen in Prömsel viel mehr als ihre Freunde in der Heimat. “Wenn man die aktuellen Spannungen mitbekommt, denkt man manchmal daran, zurückzukehren. Aber wir wollen das nicht, das Leben hier gefällt uns”, sagt Natalia. Auch ihr und Oleh schmeckt die polnische Milch besser.