Kommentar: ESC 2019: Schicksal punktet

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Persönliche Geschichten, Trauer, Depressionen – das wollten die Zuschauer des ESC. Genauso verlangten sie auch die große Show und ein buntes Musikfest. Sie haben alles bekommen – 12 Punkte für Israel, meint Silke Wünsch.

Das hatten sich viele der 41 Teilnehmer ganz genau überlegt. Hier sind die ganz großen Gefühle gefragt. Geschichten, die das Herz treffen. Sie handeln von Verlust, Trauer, unerwiderter Liebe. Der Italiener Mahmood verarbeitet seine schwere Beziehung mit seinem Vater in “Soldi”, der Franzose Bilal singt über seine marokkanische Herkunft und seine Homosexualität, Kate Miller-Heidke trällert über ihre Depression und schließlich trauert Duncan Laurence über einen geliebten Menschen, der gestorben ist. Und damit gewinnt er auch. Ohne Pomp und Getöse, nur alleine am Klavier, sitzend und ohne große Gesten, mit einem zerbrechlichen und dennoch starken Song. Das kennen wir doch schon von letztem Jahr – der Deutsche Michael Schulte machte so etwas Ähnliches auch und erreichte überraschend den vierten Platz.

Auch Michael Schulte verlor einen wichtigen Menschen in seinem Leben

Ehrliche Gefühle – das mögen die ESC-Fans – wenn der Interpret dies glaubhaft rüberbringt, dann kommen erst einmal die Tränen – und dann die Punkte. Dass Duncan Laurence dies mit Bravour schaffen würde, daran bestand eigentlich kaum ein Zweifel.

Provokation ist nicht der Weg

Island wollte da nicht mitspielen und zunächst gar nicht am ESC teilnehmen. Dennoch trat es in Tel Aviv auf – mit einer provokanten Sado-Maso-Truppe, die das Publikum mit einem Song bewarf, dessen Titel “Hass muss siegen” lautet. Hatari sehen sich als anti-kapitalistische Performance-Künstler, die sich kritisch mit unserer Konsum-Gesellschaft auseinandersetzen. So haben sie dann auch “stilecht” bei der Punktevergabe palästinensische Banner hochgehoben. 

Passt sowas zum ESC? Will der ESC-Fan sich an diesem Abend der großen Gefühle mit antikapitalistischer Kritik oder gar Politik auseinandersetzen? Auffallen um jeden Preis ist nicht unbedingt der Garant für einen ersten Platz beim ESC. Mir gefiel der Song – sowohl musikalisch als auch von der Bühnenshow her. Ohne diese gewollten Provokationen im Vorfeld wäre mir die Truppe weitaus sympathischer vorgekommen. Der Show selber tat das allerdings gut – sie war ein willkommener Ausreißer zwischen der doch eher auf einen allgemeinen Musikgeschmack zurecht gestutzten Songauswahl.

Gewinner mit traurigem Lied: Duncan Laurence aus den Niederlanden

Wo bleibt die Folkore?

Der ESC ist ein europäischer Wettbewerb, und ganz Europa hat ein hohes folkloristisches Potenzial. Früher wurde mehr in Landessprache gesungen – das ist richtig und eine Beschwerde, die auch immer wieder gerne vorgebracht wird. Aber die Künstler sind zurecht der Meinung, dass ein Auftritt in Landessprache viele Millionen Zuhörer vergraulen kann – schließlich versteht keiner den Text und viele ESC-Zuschauer machen sich auch nicht die Mühe, vorher auf einschlägigen Seiten die Bedeutung aller 40 und mehr Teilnehmerlieder zu studieren. Daher ist die englische Sprache der kleinste gemeinsame Nenner –  doch irgendwie verwandelt diese Sprache jedes Lied zu einem massentauglichen Popsong, bei dem man oft gar nicht mehr auf den Text hört, sondern nur noch auf Melodie und Tanzbarkeit achtet. Doch gerade bei dem Siegertitel von Duncan Laurence lohnt es sich, genauer hinzuhören. 

Ihm war es wichtig, seine Gefühle zu transportieren. Seine Botschaft kennt keine nationalen Grenzen. Jeder kann sich mit ihr identifizieren, egal welche Politik man bevorzugt oder welchen Glaubens man ist. Und so nimmt der junge Niederländer diesen europäischen Musikpreis verdient mit nach Hause. Amsterdam kann sich schon einmal vorbereiten.