Karussell der EU-Spitzenkandidaten

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Jede europäische Partei schickt einen oder mehrere Spitzenkandidaten für die Europawahl ins Rennen. Ihre jeweiligen Chancen, am Ende tatsächlich EU-Kommissionspräsident zu werden, sind aber unterschiedlich groß.

Nach der Europawahl wird der neue Kommissionspräsident gewählt. Dieser wird von den Staats- und Regierungschefs nominiert, die das Ergebnis der Wahl “berücksichtigen” müssen, anschließend stellt er sich der Wahl im Parlament. Das bedeutet, der Kandidat der Partei mit den meisten Stimmen sollte im Normalfall Kommissionspräsident werden. Doch die Staats- und Regierungschefs sind nicht gezwungen, sich an dieses Prinzip zu halten. Außerdem braucht auch die stärkste Fraktion für die Wahl des Kommissionspräsidenten Bündnispartner. Es könnte also Überraschungen geben. Die einzelnen Kandidaten im Überblick.

Manfred Weber

Ein Politiker der bayerischen Regionalpartei CSU als möglicher Kommissionspräsident? Das war vor wenigen Jahren kaum vorstellbar, als manche CSU-Politiker die EU scharf kritisierten. Der 46-jährige Weber hat eine erstaunliche Karriere im Europaparlament hingelegt und steht seit 2014 an der Spitze der größten Fraktion, der Europäischen Volkspartei, EVP. Vor allem durch diese Spitzenkandidatur betreibt die CSU in Bayern nun einen ausgesprochen europafreundlichen Wahlkampf. So konsequent europäisch denkt Weber, dass er sich notfalls mit der Bundesregierung in Berlin anlegt, wenn er glaubt, deren Politik schade der EU. So geschehen, als Weber einen Stopp der Gasleitung Nord Stream 2 von Russland nach Deutschland forderte.

Weber ist das Gegenteil eines Scharfmachers. Er gibt sich wertkonservativ, christlich, aber immer betont gemäßigt und sachlich. Weber weiß, dass er als Fraktionsvorsitzender und erst recht als Kommissionspräsident integrieren muss. Sein Verständnis für den ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán, dessen Fidesz-Partei inzwischen von der EVP suspendiert wurde, ging allerdings vielen zu weit. Als Orbán mit einer Anti-Migrations-Plakataktion den jetzigen Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker beleidigte, war das Verhältnis endgültig zerrüttet. Orbán will nun Weber nicht mehr unterstützen, wenn es darum geht, Kommissionspräsident zu werden.

Ausgleichender Bayer: Manfred Weber

In der Migrationspolitik setzt Weber vor allem auf den Schutz der europäischen Außengrenzen: “Die Grenzsicherung ist Vorbedingung für vernünftige Flüchtlingspolitik. Der Staat entscheidet, wer nach Europa kommt, und nicht die Schlepperbanden”. Eine CO2-Steuer lehnt der gelernte Umweltingenieur ab: “Man muss sehen, dass sich die CO2-Steuer gut anhört, aber sie heißt höhere Spritpreise und höhere Heizölpreise für die Ärmeren in der Gesellschaft.”

Mit Manfred Weber hat die EVP einen ausgleichenden Spitzenkandidaten, der weit über seine Fraktion hinaus wählbar ist. Was ihm fehlt, sind Charisma, Regierungserfahrung und schlicht Bekanntheit. Würde er Chef der Kommission, wäre es das erste Mal seit mehr als 50 Jahren, dass ein Deutscher das Spitzenamt übernähme.     

Frans Timmermans

Frans Timmermans geht für die zweitstärkste Fraktion der Sozialdemokraten und Sozialisten ins Rennen. Er hat manches von dem, was Weber fehlt. Vor seinem jetzigen Posten als Erster Vizepräsident der Kommission war der 58-jährige Niederländer Abgeordneter im Parlament in Den Haag und später niederländischer Außenminister. Er ist weltgewandt und spricht Englisch, Deutsch, Französisch, Russisch und Italienisch fließend. Als Kommissar hat sich Timmermans vor allem für Klimaschutz und die Eindämmung von Plastik-Einwegprodukten stark gemacht. “Wir brauchen unbedingt eine CO2-Steuer”, lautet seine klare Ansage, womit sich Timmermans deutlich von Weber absetzt.

In der Migrationspolitik ist zwar auch Timmermans für mehr Kontrolle. Doch während Weber den “ungeregelten Zustand” von 2015 beklagt, lobt ausgerechnet der Sozialdemokrat Timmermans die “Menschlichkeit” der Flüchtlingspolitik von CDU-Bundeskanzlerin Angela Merkel in dieser Zeit: “Sie hat damals Europa gerettet”, sagt er.

Weltgewandt und erfahren: Frans Timmermans

Timmermans kämpft für eine sozialere EU und will den europäischen Mindestlohn, ein einiges Europa soll eine starke Stimme in der Welt sein. Er warnt davor, dass Europa durch Rechtspopulisten “kaputtgehen” könnte. Die Europawahl sei eine Schicksalswahl: “Wenn wir gleichgültig bleiben und nicht zur Wahl gehen, kann es uns passieren, so wie es in Amerika passiert ist, so wie es auch beim Brexit in Großbritannien passiert ist.”

Timmermans Hauptproblem ist seine Parteizugehörigkeit. Seine Fraktion dürfte nach den Umfragen Stimmen verlieren und den Abstand zur EVP vergrößern. Außerdem gibt es unter den Mitgliedsstaaten, die das Vorschlagsrecht haben, kaum noch linke Regierungen. Und da Timmermans bisher in der Kommission für Rechtsstaatlichkeit zuständig war und in Polen und Ungarn Defizite angeprangert hat, ist er zudem für solche Regierungen geradezu ein rotes Tuch.

Margrethe Vestager

Die Liberalen haben offiziell gleich sieben Spitzenkandidaten. Trotzdem steht EU-Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager aus Dänemark klar im Mittelpunkt. Die 51-Jährige war früher Wirtschafts- und Innenministerin in Dänemark. In Brüssel hat sie das Kunststück fertig gebracht, als Mitglied der oft als verstaubt verspotteten Kommission zu einer Art Star zu werden, weil sie mächtigen  Internetkonzernen die Stirn bietet. Apple hat sie zur Nachzahlung von 13 Milliarden Euro Steuern in Irland verdonnert und Google zu Strafen von insgesamt mehr als acht Milliarden Euro wegen Marktmissbrauchs. Bei der europäischen Bevölkerung kommt das gut an.

Furchtlos gegenüber den Konzernen: Margrethe Vestager

Vestager findet, es sei endlich Zeit für eine Frau an der Spitze der Kommission, also für sie. Obwohl die Liberalen nur viertstärkste Fraktion im Europaparlament sind, stehen ihre Chancen gar nicht so schlecht. Denn sie sind programmatisch offen nach links und rechts und könnten Zünglein an der Waage werden. Die beliebte Margrethe Vestager kommt damit als Kompromisslösung für den Spitzenposten infrage.

Die Liberalen haben allerdings vergeblich gehofft, dass sich die französische Partei La République en Marche des französischen Präsidenten Emmanuel Macron ihnen anschließen würde. Macron sagte sogar offen, er sei gegen das Spitzenkandidaten-Prinzip, und stellte damit klar, dass die Staats- und Regierungschefs vielleicht eine ganz andere Person vorschlagen werden.

Ska Keller

Zusammen mit dem Niederländer Bas Eickhout ist die 37-jährige Deutsche Ska Keller Spitzenfrau der Grünen. Gleichauf mit der Linken sind die Grünen nur fünftstärkste Fraktion, daher liegen Kellers Chancen, Kommissionspräsidentin zu werden, praktisch bei Null. Doch Kellers Präsenz im Europaparlament und jetzt im Wahlkampf ist groß. Kaum jemand von den Spitzenkandidaten führt einen so engagierten Wahlkampf. Sie wuchs in der DDR auf und argumentiert mit dieser Erfahrung, man dürfe Demokratie nicht für selbstverständlich nehmen.

Engagierte Kämpferin: Ska Keller

Ihre großen Themen sind Klimaschutz, Migration und fairer Handel. In einem Duell gegen Manfred Weber sagte sie zu dessen Abwiegeln beim Klimaschutz: “Das Klima kann nicht warten.” Keller setzt sich nach wie vor für eine liberale Flüchtlingspolitik ein und war Anfang dieses Jahres an Bord eines Schiffes des deutschen Vereins Sea Watch, das Migranten im Mittelmeer aus Seenot rettet. In der Sozialpolitik fordert sie europaweite soziale Mindeststandards. 

Jan Zahradil

Die Europäischen Konservativen und Reformer, EKR, sind zwar noch vor den Liberalen die drittgrößte Fraktion im Europaparlament. Doch aus zwei Gründen spielt ihr Spitzenmann, der 56-jährige Tscheche Jan Zahradil, bei der Besetzung des Kommissionsvorsitzes kaum eine Rolle. Einerseits bilden die britischen Konservativen die größte Gruppe in der EKR, und auch wenn Großbritannien nun doch an der Wahl teilnimmt, werden sie bei einem Brexit natürlich wegfallen. Zum anderen ist die EKR in ihrer Ausrichtung nicht nur konservativ, sondern zu großen Teilen auch EU-skeptisch bis rechtspopulistisch.

EU- und Klimaskeptiker: Jan Zahradil

Auch Jan Zahradil steht nicht gerade für mehr europäische Integration, sondern eher für einen Rückbau der EU. Dass der Klimawandel menschengemacht ist, stellt er infrage.

Nico Cué

Ebenfalls Außenseiter ist Nico Cué. Zusammen mit der Slowenin Violeta Tomić bildet Cué das Spitzenduo der Linksfraktion. Als Kind floh Cué mit seiner Familie aus dem Spanien Francos nach Belgien. Der ehemalige Metall-Gewerkschafter setzt sich für die klassischen Ziele der Linken ein: Umverteilung, Verstaatlichung, Schutz der europäischen Wirtschaft vor außereuropäischer Konkurrenz. Den Rechtspopulismus sieht er als “faschistische Bedrohung”, dem man entschieden entgegentreten müsse.

Klassischer Linker: Nico Cué

Cué gibt selbst zu, dass er bei den bestehenden Mehrheitsverhältnissen nicht Kommissionspräsident werden kann. Doch er will die Kandidatur nutzen, um auf die Situation der Arbeitnehmer aufmerksam zu machen und für europaweite Solidarität zu kämpfen. In die Negativschlagzeilen geriet er im vergangenen Oktober im Zusammenhang mit der Kontroverse um Waffenverkäufe an Saudi-Arabien. In einer Diskussionsrunde, so berichtete der belgische Rundfunk, habe sich Cué dafür ausgesprochen, dass wallonische Waffenhersteller so lange Saudi-Arabien weiter beliefern sollten, bis es eine einheitliche europäische Haltung dazu gebe.