Drive-in bei Gott

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Deutschlands Seele brennt. Leise und anonym. Zwischen Tankstellen und Trucks zünden Urlauber und Fernfahrer in Autobahnkirchen Kerzen für ihre Mitmenschen an. Ein Bericht über religiöse Schnellkost “made in Germany”.

Diese Gebete sind für den Himmel gedacht: “Lieber Gott, gib bitte meinem Vater die Kraft, zu sterben und beschütze meinen Sohn in Afghanistan.” “Mögen alle, die unter Krebs leiden, Gott an ihrer Seite haben.” “Danke für diesen Mann an meiner Seite.”

Dankbarkeit und Depression, Krankheiten, Katastrophen und Karriere – in den Einträgen der Anliegenbücher, die in jeder Autobahnkirche ausliegen, spiegelt sich Deutschlands Seele wider. 

Dankbarkeit, Trauer, Hilferufe: In den Anliegenbüchern offenbaren Besucher ihr Seelenleben

Die Besucher der Autobahnkirchen suchen eine Auszeit vom Stress auf der Autobahn, verlassen für einige Minuten die ununterbrochen pulsierenden Verkehrsadern, die Deutschland durchziehen. Sie sind Teil einer wachsenden Gemeinde – die anonym reisenden Autobahnkirchenbesucher.

Anonym und attraktiv

“Die Kirche ist für mich wie ein Zelt, ein Schutzraum, wo mir erst einmal nichts passieren kann”, sagt Katharina Schulz (Name geändert), 19 Jahre alt, nach dem Besuch der Autobahnkirche Siegerland. “Ich komme immer hierher, wenn ich Sorgen habe.”

Gerhard Sauer aus dem nahe gelegenen Neunkirchen schätzt die wöchentliche Abendandacht. “Zur Besinnung war ich schon öfter mal alleine hier. Aber die Kurzandachten gehen voll rein. Da ist immer eine Spannung drin”, sagt der Mitsechziger.

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Schöner beten

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Schöner beten

Die 2013 eröffnete Autobahnkirche Siegerland an der A 45 bietet einen Ruheraum neben dem endlosen Grundrauschen rollender Reifen. Rund 2000 Besucher kommen dort monatlich vorbei. Elf Anliegenbücher haben sie bereits mit ihren Wünschen, Gebeten und Danksagungen gefüllt.

Einkehr ohne Wut

Die Einträge zeigen ein Deutschland ohne Hass. “Die Leute schreiben dort ihre Sorgen und ihren Dank nieder, weniger ihre Wut”, sagt Ute Pohl. Im Gegensatz zu den “Chatrooms der modernen Medien findet sich hier eher das suchende Element”, meint die Vorsitzende des Fördervereins der Autobahnkirche Siegerland. 

Ute Pohl ist die Vorsitzende des Fördervereins der Autobahnkirche Siegerland

Viele der Besucher nehmen Anteil an den Gedanken und Gebeten, die sich in den Einträgen widerspiegeln. Manchmal fügen sie sogar ihre eigenen Gedanken hinzu. Auch Alessia hofft darauf, dass ihre Klagen erhört werden, insbesondere von ihrem Freund, der sie verlassen hat. Sie kommt regelmäßig in die Autobahnkapelle St. Raphael am Rasthof Nievenheim bei Köln und schreibt sich dort ihren Liebeskummer von der Seele.

Unter den Augen des Erzengels Raphael öffnet die junge Frau ihr Herz. “Lieber Gott, ich wollte eigentlich mit positiven Gefühlen kommen, wenn ich Dich hier besuche”, beginnt ihr Eintrag in dem Anliegenbuch, das auf einem Ständer in der rechten Ecke der Kapelle aufgeschlagen liegt. “Bitte schenke Stefan den Glauben an unsere Beziehung zurück”.

Hoffen auf den Heiligen Geist

Diese Zwiesprache zwischen Pärchen findet auch in der Autobahnkirche Siegerland statt. Ute Pohl kennt das Phänomen: “Die Menschen, die so einen Eintrag machen, hoffen auf Antwort”, sagt sie, und fügt schmunzelnd hinzu: “Wenn das hier in der Kirche passiert, dann wollen wir doch hoffen, dass der Heilige Geist seine positive Wirkung entfaltet”.

Die Gemeinde der Autobahnkirchenbesucher wächst. Rund eine Million Menschen nutzen jedes Jahr die Auszeit am Asphalt. Die erste Autobahnkirche wurde in Deutschland bereits 1958 an der A8 im bayerischen Adelsried eingeweiht. Mittlerweile ist ihre Anzahl auf 47 Gotteshäuser gestiegen. Und auch in Österreich und der Schweiz gibt es mittlerweile Autobahnkirchen.

Das Wachstum kommt von unten. Eine zentrale Stelle zur Planung von Autobahnkirchen gibt es nicht. Wie bei der Kirche im Siegerland sind es häufig Privatpersonen, Vereine oder Kirchengemeinden vor Ort, die auf eigene Rechnung Kapellen bauen.

Durchgehend geöffnet: Die katholische Autobahnkapelle St. Raphael an der Raststätte Nievenheim an der A57

Im Gegensatz zu traditionellen Kirchengemeinden verweilen die Besucher der Autobahnkirchen meist nicht länger als fünf bis zehn Minuten, fand eine Studie vom Zentrum für kirchliche Sozialforschung der Katholischen Fachhochschule Freiburg heraus. Die Mehrheit sei kirchlich gebunden, über 50 Jahre alt , männlich, verheiratet und wohne in Deutschland. 

Fünf Minuten Besinnung

Die Anonymität an der Autobahn ist attraktiv. Wer einmal angehalten habe, so die Studie, der komme bei der nächsten Reise wieder. Die meisten Besucher störe es nicht, dass nur selten ein Seelsorger anwesend sei, im Gegenteil. Zwei Drittel würden spontan anhalten, eine Kerze anzünden und kurze Andacht halten.

Fernfahrer Herbert (Name geändert) gehört zu diesen regelmäßigen Besuchern. Mindestens zweimal pro Woche hält er an der evangelischen Autobahnkirche Medenbach an: “Einfach mal runterkommen und die Dinge sacken lassen”.

Muskulös ragt sein Körper aus den dunkelblauen Shorts. Er geht festen Schrittes auf die gläserne Eingangstür zu, drückt diese behutsam auf, geht am Altar vorbei und zündet eine Opferkerze an. Dann setzt er sich auf einen der Stühle aus hellem Holz, senkt sein Haupt, hält inne und genießt den Moment der Stille.

Sein Blick verharrt an den vielen Opferkerzen: “Dass man in der Kirche eine Kerze zum Gedenken an Freunde und Mitmenschen anzündet, habe ich mal von meiner Freundin beigebracht bekommen”, erinnert er sich. Nach einer kurzen Pause fügt er hinzu: “Die Freundin habe ich vergessen, aber das Ritual ist immer noch da.”