Mein Europa: Mehr Sprachen, mehr Freiheit?

0
246

Die EU-Kommission empfiehlt, Fremdsprachen zu lernen – für mehr Mobilität in Job und Studium. Doch viele Menschen in Osteuropa brauchen weitaus mehr als Reisefreiheit, um wirklich frei zu sein, meint Lavinia Braniște.

Die Aufnahmeprüfung für die Fremdsprachenabteilung der Universität Cluj (Klausenburg) in Rumänien legte ich 2002 ab. Rückblickend habe ich das Gefühl, dass ich mit 18,19 Jahren den Höhepunkt meiner Wettbewerbsfähigkeit erreicht hatte. So wie ich mein Leben heute beurteile, spüre ich, dass es mein bedeutendster Sieg war, einst den Subjunktiv im Französischen beherrscht zu haben. Nach der erfolgreichen Aufnahmeprüfung musste ich mich für ein Fachgebiet entscheiden. Zwar hätte ich eine außergewöhnlichere Kombination wählen können, aber ich blieb beim klassischen Paar: Englisch und Französisch. Ich dachte, damit gehe ich auf Nummer sicher – mit zwei international weit verbreiteten Sprachen finde ich eine Arbeit.

Damals waren mir die Mechanismen des Übersetzermarkts noch fremd: Die bekanntesten Sprachen bringen lächerlich niedrige Honorare, es ist ein intelligenterer Schritt, eine “Nischensprache” auszuwählen. Doch es gibt auch keinerlei Garantien dafür, dass die betreffende Sprache für immer als exotisch gilt. Ein Beispiel: Als ich 2012 in einer Firma für Film-Untertitel arbeitete, eroberten türkische Serien die rumänischen TV-Sender, Übersetzer für Türkisch tauchten überall auf, wie Pilze nach dem Regen. Sie wurden sogar direkt aus den Seminarräumen der Uni angeworben. Türkisch, eine frühere “Nischensprache”, war für Übersetzer in Rumänien plötzlich finanziell so lukrativ wie Englisch.    

Ständig geht es um Arbeitsplätze 

Deshalb, dachte ich am Anfang, würde ich mit Englisch und Französisch eine große Freiheit haben – mit zwei notwendigen Sprachen, die aber, ehrlich gesagt, weder damals noch heute irgendjemanden beeindrucken. Darauf wollte ich hinaus, auf den Begriff der Freiheit durch Fremdsprachen, der in den Dokumenten der EU-Kommission über das Lehren und Lernen von Sprachen in den Mitgliedsstaaten sehr präsent ist. Das wichtigste Argument für das frühe Erlernen von mindestens zwei Fremdsprachen: Sie bringen dir die Freiheit, in einem anderen Land zu arbeiten und zu studieren. Es war seltsam, wie oft in diesen Dokumenten das Wort “Arbeitsplatz” vorkommt, als wäre das wichtigste Ziel aller EU-Bürger (ob an Fremdsprachen interessiert oder nicht), in einem anderen Land Arbeit zu finden. Anscheinend ist der Motor, der Menschen im Kampf antreibt, der Job. Er ist das häufigste und wichtigste Argument.

Durch Bildung zu mehr Freiheit: Kinder auf dem Schulweg in einem rumänischen Dorf

Im Zusammenhang mit den beiden von der EU-Kommission empfohlenen Fremdsprachen möchte ich zwei Probleme in Osteuropa ansprechen: Die schwache Qualität der Unterrichtssysteme, die in unseren Staaten zu einem hohen Grad an funktionalem Analphabetismus führt, und das fehlende Interesse an den eigenen Nachbarländern.

Stimmenkauf für eine Tüte Mehl 

Funktionaler Analphabetismus bedeutet, dass die Menschen zwar lesen können, aber den gelesenen Text nicht verstehen und keine eigene Meinung darüber äußern können. Leider sind in Rumänien auf dem Land sehr viele in dieser Situation. Es sind Menschen, die es sich in den meisten Fällen nicht leisten, ihre Kinder in die Schule zu schicken, oder aber andere, die es sich zwar leisten können, aber den Nutzen der Schule nicht verstehen. Die Menschen aus diesen Gemeinschaften kennen ihre eigene Sprache und Kultur nur mit Müh und Not, sie haben keinen Zugang zu Schulen und Bibliotheken. Von einem korrupten Staat, der Bildung systematisch unterfinanziert, werden sie in prekären Milieus gehalten, in denen sie leicht zu manipulieren sind.

Ich bin mir beinahe sicher, dass die Lage in den Nachbarländern ähnlich ist, Rumänien ist kein Sonderfall, weder im Guten, noch im Schlechten. Für diese Menschen ist die europäische Idee, zwei Fremdsprachen zu lernen für mehr Mobilität in Job und Studium, sehr weit weg! Außerdem sagt uns die EU-Kommission noch obendrein, es sei nötig, Fremdsprachen zu beherrschen, um ein “aktiver” Bürger Europas zu sein. Doch wie kann ein Mensch dieses Konzept von Europa erfassen, dessen Stimme bei Wahlen schon für eine Tüte Mehl oder durch eine Predigt in der Dorfkirche zu haben ist? Oder, noch schlimmer, durch die Drohungen des Bürgermeisters, das Kindergeld zu kürzen? Für diese Menschen ist Freiheit nicht in erster Linie das freie Reisen durch Europa, sondern die eigene Bildung, die es ihnen ermöglichen würde, Herr ihrer eigenen Meinungen und Entscheidungen zu sein. Ich würde mich freuen, wenn Europa mehr dafür tun würde, dass absolut alle Bürger einen menschenwürdigen Lebensstandard haben und tatsächlich frei – also gebildet – sind.

Wir kennen unsere Nachbarländer kaum 

Der zweite Aspekt, an den ich im Zusammenhang mit den Fremdsprachen denken muss, den wir in der Schule oder im Laufe unseres späteren Lebens lernen, ist, wie wenig wir in Osteuropa unsere Nachbarn kennen. Wir lernen die Sprachen der Nachbarländer nicht in der Schule. Wenn die erlernten Fremdsprachen uns helfen, im Ausland zu arbeiten und zu studieren, ist es klar, dass wir in dieser Region nicht bei den Nachbarn arbeiten und studieren wollen. Die Erklärung liegt auf der Hand: Wir haben eine traurige gemeinsame Geschichte, die das gleiche wirtschaftliche Desaster hinterlassen hat. Unsere Wünsche richten sich auf den schillernden Westen. Das ist verständlich. Aber sollten wir nicht einmal die Literatur der Nachbarn kennen? Nicht einmal ihre Kultur, mit der wir so viel gemeinsam haben?    

Für uns, in Rumänien, gibt es tatsächlich eine wichtige Sprachbarriere: Außer in der Republik Moldau sprechen unsere Nachbarn Sprachen aus anderen Familien, einige sogar mit einem anderen Alphabet, die dadurch aus unserer Sicht schwer zugänglich und exotisch sind. Wären wir zum Beispiel die Nachbarn Italiens, würde es uns viel leichter fallen, die Sprache einfach so aufzuschnappen – sozusagen aus Spaß. (Anm. der Redaktion: Rumänisch ist eine romanische Sprache, wie Italienisch.)  

Wenn übersetzte Bücher einem Wunder gleichen

Ein Verleger sagte mal bei einem Event der Buchbranche, er müsste neun Bestseller publizieren, um die Kosten für ein einziges nicht-kommerzielles Buch auszugleichen. Doch leider kommen oft selbst diese nicht-kommerziellen Abenteuer der Verleger auch aus dem angelsächsischen Raum oder aus den “großen” Kulturen. Im Moment sind die Übersetzungen aus den Sprachen unserer Nachbarländer weiterhin von Finanzierungsprogrammen diverser Institutionen abhängig – ob europäisch oder nicht. Sie werden von wenig sichtbaren Verlagen publiziert, ihre Reichweite ist gering. Zum Beispiel habe ich kroatische Autoren auf Englisch (Robert Periši) oder Spanisch (Roman Simi) gelesen, weil sie nicht ins Rumänische übersetzt werden. Dass sie überhaupt in “großen” Sprachen vorliegen, gleicht einem Wunder. 

Fremdsprachen öffnen uns Türen zu großen Kulturen und bringen uns die große Freiheit, in der weiten Welt zu studieren und zu arbeiten. Doch anscheinend bleibt die kleine Freiheit, unsere Nachbarn kennen zu lernen, etwas, was nur durch sehr große Bemühungen gelingt. 

Die rumänische Schriftstellerin und Literaturübersetzerin Lavinia Braniște lebt und arbeitet in Bukarest. Ihr Buch mit dem rumänischen Originaltitel “Interior zero” wurde 2016 in Rumänien zum besten Roman des Jahres gewählt. 2018 erschien die deutsche Übersetzung unter dem Titel “Null Komma Irgendwas”.

Übersetzung aus dem Rumänischen: Dana Alexandra Scherle