Terre des Hommes: “Kinder sind immer Opfer”

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Laut UN sind bis zu 300.000 Kinder an 30 bewaffneten Konflikten auf der Welt beteiligt. Wie sie ihre Traumata aufarbeiten und eine neue Perspektive finden können, erzählt Henriette Hänsch von Terre des Hommes.

Kindersoldat in Aleppo (Archivbild)

Die Hilfsorganisation Terre des Hommes wurde 1967 gegründet, um schwer verletzen Kindern aus dem Vietnamkrieg zu helfen. Weltweit und in Deutschland fördert die Organisation 400 Projekte für benachteiligte Kinder und setzt sich für Kinder in Not ein. Auch für Kinder, die zwangsrekrutiert und im Krieg eingesetzt werden. 

Die Liste der Länder, in denen Kinder als Kämpfer eingesetzt werden ist lang. Die meisten von ihnen sind im Nahen Osten, Afrika und Asien. In Syrien werden Tausende von Kindern als Soldaten missbraucht, die meisten vom “Islamischen Staat” (IS), aber auch von der Freien Syrischen Armee, kurdischen und Pro-Assad-Gruppen. Henritte Hänsch betreut Projekte im Nordirak, die Kinder und Jugendliche unterstützen, nach ihrem Einsatz ihre Traumata zu bewältigen.

DW: Sie arbeiten mit lokalen Organisationen, die sich mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen beschäftigen. Können Sie uns die Situation im Nordirak etwas näher beschreiben?

Hänsch: Im Zuge der IS-Herrschaft waren Kinder und Jugendliche aktiv in Kampfhandlungen involviert, aber auch durch ihre Familie oder Umgebung in diese Situation eingebunden. Sie sind massiv davon betroffen, weil sie so etwas wie die neue Generation des Kalifats sind. In Mosul haben wir 800 Jungen und Mädchen bis zum Alter von 16 Jahren gezählt, die zu Gefängnisstrafen verurteilt wurden. Hier sprechen wir teilweise von Kleinkindern, die mit ihren Eltern inhaftiert wurden. Im Jugendgefängnis Erbil haben wir die Situation, dass 300 Kinder und Jugendliche im Alter zwischen 12 und 16 inhaftiert waren. Mittlerweile sind es nur noch 54. Diese Kinder haben häufig gar keine Möglichkeit zu ihrer eigenen Familie zurückzukehren, wenn sie entlassen werden. Sie tauchen dann in Camps für Binnenvertriebene auf, trauen sich nicht in ihre Heimatregionen zu gehen, aus Angst vor Vergeltungsaktionen. 

DW: Wie sieht die Zusammenarbeit mit lokalen zivilgesellschaftlichen Organisationen vor Ort aus?

Henritte Hänsch arbeitet mit lokalen Organisationen im Nordirak zusammen

 Die Organisationen machen die eigentliche Arbeit vor Ort. Sie haben vor allem die Zugänge, weil sie selber aus der Gesellschaft kommen und die Umstände vor Ort gut kennen. Entweder haben sie selbst Expertise im Bereich Umgang mit Kindern in bewaffneten Konflikten oder sie werden von uns geschult. Wir helfen ihnen beispielsweise auch Traumata bei den Kindern und Jugendlichen zu erkennen und vor allem, wie sie diese Kinder in der spezifischen Situation unterstützen können. Uns geht es darum, dass sie Vertrauen aufbauen, psychische Erlebnisse aufarbeiten und Perspektiven aufzeigen. Nur so kann eine Durchbrechung des Kreislaufes von Gewalt, Verzweiflung und Verängstigung gelingen.

DW: Wie werden Kinder und Jugendliche im Nordirak zu Kämpfern?

Manche werden als Kämpfer ausgebildet und ideologisch indoktriniert. Andere sind in der logistischen Unterstützungsarbeit tätig. Sie überbringen beispielsweise Informationen. Wir sind der Ansicht, dass alle Kinder und Jugendliche immer Opfer sind, auch wenn sie in aktive Kampfhandlungen involviert sind und Verbrechen begangen haben. Für uns sind sie trotzdem immer Opfer. Kinder, die durch Zwang da rein geraten, deren ganzes soziales Umfeld beim IS ist, die haben gar nicht die Möglichkeit da rauszukommen.

Im Irak haben wir folgendes beobachtet: Durch die Offensive auf Mosul durch die kurdische Peschmerga und irakische Armee wurden viele dieser Personen, Erwachsene als auch Kinder und Jugendliche, gefangen genommen. Nicht alle sind verurteilt oder inhaftiert worden. Aber sie sind aus der Situation herausgekommen. Wenn die Kinder zu den Familien zurückkommen, wissen wir nicht wie sich ihre Lebenssituation gestaltet. Vielleicht sind sie dann wieder in einem Umfeld, das Affiliation zu bewaffneten Gruppen hat. Aber die, die in den Jugendgefängnissen sitzen, da ergibt sich oft ein Zugang und da fängt unsere Arbeit an.

Über 30 Millionen Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren sind weltweit auf der Flucht

DW: Mit welchen Herausforderungen sind diese Jugendlichen dann konfrontiert, wenn die Kämpfe vorbei sind und sie wieder frei sind?

Erstmal geht jegliches Vertrauen verloren. Es ist eine riesengroße innere Zerrissenheit. Einerseits das Gefühl Opfer zu sein und andererseits wollte man nie in diese Situation kommen. Gleichzeitig ist man aber auch Täter und hat vielleicht Menschen umgebracht. Das ruft psychische Folgestörungen hervor. Das kann unterschiedliche Wege nehmen: Komplette Zurückgezogenheit, Angststörung, Depressionen, Traumatisierung, nicht mehr anschlussfähig sein, in sozialen Kontexten sich nicht mehr sicher bewegen können, geplagt zu sein von Schuldgefühlen, von Bildern und Flashbacks. Man nimmt Kindern und Jugendlichen jegliche Sicherheit und Perspektive auf die Zukunft, in dem man sie in solche Situationen drängt.

DW: Wie sieht das konkret aus? Wie werden diese Kinder als solche erkannt?

Die Arbeit in den Gefängnissen kann aufgrund der Rahmenbedingungen nur sehr niederschwellig stattfinden. Es sind Angebote, ganz einfache Freizeitaktivitäten, wie malen oder spielen. Die lokalen Fachkräfte sind darauf geschult traumatisierte Kinder zu erkennen. 

DW: Geht von diesen Kindern eine Gefahr aus?

Ich würde jetzt davon Abstand nehmen, zu sagen, dass die betroffenen Kinder eine massive Gefahr für ihre Gesellschaft darstellen. In der Gesamtheit betrachtet ist es sicherlich ein Gefahrenpotenzial, der Konflikte in Zukunft verschärfen kann, wenn man eine große Anzahl an Kindern und Jugendlichen hat, die mit großen psychischen Problemen kämpfen. Jeder einzelne Betroffene geht auf seiner Art und Weise damit um, aber es ist auf jeden Fall wichtig, sie aufzufangen und zu unterstützen, um in Zukunft, viele Problematiken vorzubeugen. 

DW: Wie kann eine Reintegration gelingen?

Reintegration kann erst dann funktionieren, wenn die Kinder in ihr gesellschaftliches Umfeld zurückkehren können. Wenn die Familie und die Gemeinschaft in diesem Prozess eingebunden sind. Und wenn es eine Perspektive gibt, also Möglichkeiten wieder zur Schule zu gehen, eine Ausbildung zu machen oder zu arbeiten. Das hängt mit größeren gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zusammen, wie zum Beispiel der Frage: Gibt es überhaupt Arbeit in diesem Ort für diese Personen. Das kommt es ganz darauf an. Im Irak sind wir leider noch nicht soweit, dass ich ihnen ein positives Beispiel nennen könnte.

Zur Person: Henriette Hänsch ist Mitarbeiterin der Hilfsorganisation Terre des Hommes im Referat Flucht und Migration. Sie betreut Projekte im Nahen und Mittleren Osten.

Das Gespräch führte Nermin Ismail.