Von Berlin nach Marrakesch: Christoph Terhechte

0
270

Ein Deutscher leitet künftig eines der größten Festivals auf dem afrikanischen Kontinent. 17 Jahre war Christoph Terhechte zuvor Chef des Forums der Berlinale. Ein Gespräch über das afrikanische Kino und den neuen Job.

Stimmungsvolle Atmosphäre: Das Filmfestival in Marrakesch

17 Jahre Berlinale, jetzt die 17. Ausgabe des “Marrakech International Film Festival” – kein gewöhnlicher Jobwechsel. Christoph Terhechte, 1961 in Münster geboren, war in der Ära Dieter Kosslick verantwortlich für das “Forum des Jungen Films” der Berlinale, der wichtigsten und größten Sektion neben dem Wettbewerb. Seit ein paar Monaten arbeitet er als künstlerischer Leiter des Filmfestivals in Marrakesch, das nach einem Jahr Pause vor einem Neustart steht.

In Marrakesch zu Gast: Robert DeNiro und Martin Scorsese

Vom 30.11. bis zum 8.12. werden in der marokkanischen Stadt Filme in einem Wettbewerb und zahlreichen Neben-Sektionen gezeigt, eine Hommage ist Robert DeNiro ausgerichtet, der auch anwesend sein wird. Als weiterer prominenter Ehrengast ist Regisseur Martin Scorsese geladen. Doch das Festival sieht seinen Schwerpunkt vor allem auch in der Präsentation des arabischsprachigen und afrikanischen Kinos. Wir haben Christoph Terhechte kurz vor Festivalbeginn in Marrakesch erreicht.

Deutsche Welle: Der Sprung von der Berlinale zum künstlerischen Leiter des Festivals in Marrakesch war natürlich eine Herausforderung. Was hat Sie an der neuen Aufgabe gereizt?

Christoph Terhechte: Zum einen hatte ich nach 17 Jahren Berlinale-Forum schon länger über Alternativen nachgedacht. Ich wollte ganz sicher nicht bis zur Verrentung in Berlin bleiben. Das Angebot aus Marokko hat mich auch deshalb gereizt, weil ich schon 1999 ein Programm mit marokkanischen Filmen für das Forum zusammengestellt habe.

Und 2017 habe ich mit dem marokkanischen Dokumentarfilmer Ali Essafi eine Retrospektive um den mehr oder weniger vergessenen marokkanischen Regisseur Ahmed Bouanani (1938-2011) kuratiert. Vor zwei Jahren habe ich über Bouanani in Rabat recherchiert, der hat in den 1960er und ’70er Jahren das marokkanische Kino völlig neu erfunden. Ich habe mich in das Land Marokko und seine Filmkultur verliebt.

Christoph Terhechte

Was macht das marokkanische Kino heute aus?

Ich war im März in Tanger in der Jury des nationalen Filmfestivals, wo 15 aktuelle marokkanische Filme gezeigt wurden und da hatten wir tatsächlich Schwierigkeiten, unsere Preise zu vergeben, weil es so viele spannende Filme gab. Ich war sehr beeindruckt vom Anteil hochqualitativer und origineller Filme aus einem Land, in dem eben nur rund 25 Filme produziert werden.

Da gibt es Regisseure wie Nabil Ayouch, die seit vielen Jahren immer wieder größere und auch teurere Filme produzieren. Und es gibt auf der anderen Seite junge Debütanten, die zum Teil auch ein sehr schräges und wildes Kino machen.

Acht Jahre nach der Arabischen Revolution kommt natürlich immer die Frage auf: Wie politisch ist das Kino in Marokko und in der Region? Können die Filmemacher in Marokko frei arbeiten?

Weitgehend ja. Natürlich macht jeder in seinem eigenen Land Dinge, die den Sensibilitäten dieser Kultur angemessen sind. Japanische Filme nehmen sich an anderer Stelle etwas heraus als eben zum Beispiel argentinische oder auch deutsche – und so auch marokkanische. Wir sind an einigen Stellen überrascht von dem, was hier möglich ist, und an anderen Stellen denken wir, hier hätte man auch weiter gehen können. Jedes Kino ist der Kultur verhaftet, in der es entsteht.

Sorgte im arabischsprachigen Raum für viel Aufregung: der Film “Much Loved”

Es ist hier aber nicht so, dass die Leute verschlüsselt erzählen müssen, weil sie die Zensur fürchten – überhaupt nicht! “Much Loved” von Nabil Ayouch (2016) behandelte das Thema Prostitution und hat damit ziemlich viel Aufruhr verursacht. Der Film konnte in Marokko nicht gezeigt werden, aber das marokkanische Kino hat nicht unter diesem Aufruhr gelitten. Im Gegenteil: Der Film hat Diskussionen in Gang gebracht.

Natürlich zeigen Sie beim Festival besonders viele Filme aus dem arabischsprachigen Raum. Wie bilden Sie das dortige Kino ab? Und wie das des Kontinents Afrika?

Wir haben aus dem arabischsprachigen Raum Filme aus Marokko, aus Tunesien, aus dem Sudan, vieles aus Ägypten. Das Filmschaffen südlich der Sahara hat es dagegen extrem schwer. Es gibt auf dem Festival aber auch Filme von dort, zum Beispiel den nigerianischen Film “Lionheart” von Genevieve Nnaji, die Regisseurin ist gleichzeitig auch Hauptdarstellerin. Das ist ein Produkt des sogenannten Nollywood (nigerianische Filmindustrie), das aber insofern eine Neuerung darstellt, dass man mit Nollywood immer schnell und billig gedrehtes und vertriebenes Kino gleichsetzt.

Premiere feierte “Rafiki” in Cannes, jetzt ist er in Marrakesch zu sehen

Nun gibt es aber eine Neuentwicklung, Filme, die ein etwas höheres Budget haben und einen höheren Qualitätsanspruch – auch im internationalen Vergleich. Mit diesem Film, das ist ein echtes Novum, hatte zum ersten Mal ein Nollywood-Film Premiere bei einem großen internationalen Filmfestival, dem in Toronto. “Lionheart” wird nun von Netflix vertrieben. Da bahnt sich was an und wir sind froh, dass wir diese Entwicklung begleiten.

Ein weiterer Film ist “Rafiki” aus Kenia von Wanuri Kahiu, der schon beim Filmfest in Cannes gezeigt wurde. Auch das ist ein außergewöhnlicher Film, weil er aus einem Land kommt, in dem Homosexualität verteufelt wird. Er erzählt eine lesbische Liebesgeschichte und gleichzeitig eine Romeo-und-Julia-Geschichte, weil die beiden Frauen, die sich ineinander verlieben, die Töchter politischer Kandidaten sind, die im Wettstreit liegen.

Sie haben auch einen Wettbewerb mit 14 Filmen, die Jury, in der auch der deutsche Schauspieler Daniel Brühl ist, wird vom US-Regisseur James Gray angeführt. Schauen wir auf das Kino aus Nord-Afrika, das ist auch im Wettbewerb vertreten. Was hat der Wettbewerb in Marrakesch für einen Anspruch?

“Akasha”: Geschichte einer Dreiecksbeziehung zwischen einem südsudanesischen Soldaten, seiner Freundin und einer AK-47

Der Wettbewerb besteht ausschließlich aus ersten und zweiten Spielfilmen. Da sind zum Teil auch schon bekanntere Regisseure dabei, die mit ihrem ersten Film einen ziemlichen Erfolg hatten.

Wir zeigen den marokkanischen Film “Une Urgence Ordinaire” (“Urgent”) von Mohcine Besri und es gibt drei weitere Filme aus dem arabischen Raum. “Akasha” von Hajooj Kuka setzt sich mit dem Bürgerkrieg im Sudan auseinander, das aber auf sehr spielerische und originelle Art und Weise – kein Kriegsfilm, sondern ein Film, der vom Alltag im Bürgerkrieg handelt und auch zeigt, welche absurden Situationen daraus entstehen.

Dann haben wir den ägyptischen Film “La Ahdun Hunak” (“The Giraffe”) von Ahmed Magdy, der vom sensiblen Thema Abtreibung handelt und der im Laufe einer Nacht spielt, in der ein junger Mann versucht, das Geld für die Abtreibung seiner Freundin zusammenzukratzen. Der steht für ein intimes, neues ägyptisches Kino, das nichts mit den bekannten Melodramen aus Ägypten zu tun hat. Ein Kino, das versucht, ägyptische Realität und Alltag auf eine sehr direkte Art abzubilden. Auch in anderen Festivalreihen haben wir ägyptische Filme, die alle für ein neues Kino im arabischen Raum stehen, speziell in Ägypten.

“Regard-moi” thematisiert die schwierige Rückkehr in die afrikanischen Heimatländer der Protagonisten

Des Weiteren haben wir den tunesischen Film “Regard-moi” (“Look at me”) von Nejib Belkadhi im Wettbewerb. Der nimmt ein Topos auf, das häufig vorkommt in Filmen der Region: den Rückkehrer aus Europa. Menschen, die aus welchen Gründen auch immer, zurückkehren zu ihren Wurzeln in Nordafrika. In diesem Fall geht es um einen in Paris lebenden Mann, der sich plötzlich um sein vernachlässigtes Kind in Tunesien kümmern muss. Das Kind ist autistisch, der Mann versucht eine Beziehung zu dem Kind aufzubauen. Das ist sehr anrührend, gleichzeitig aber auch sehr analytisch und nüchtern erzählt.

Zum Schluss noch die Frage an Sie persönlich – wie unterscheidet sich die Arbeit bei einem deutschen Festival wie der Berlinale zur Arbeit für ein Festival wie dem in Marrakesch?

Der größte Unterschied ist erst einmal, dass ich mich anders als in Berlin auf keinerlei Routinen verlassen kann. Das Festival fand 2017 nicht statt, und ein Teil des Teams ist neu. Wir definieren ein großes Segment des Festivals neu, was natürlich eine spannende Herausforderung ist. Außerdem konnte ich in Berlin auf ein treues cinephiles Publikum bauen. Das Publikum in Marrakesch für uns zu gewinnen ist eine der wichtigsten Aufgaben, die sich uns stellt.

In den vergangenen Wochen bin ich von Fakultät zu Fakultät gewandert, habe unser Programm vor dem Filmclub des Museums Yves Saint Laurent und vor Grundschullehrern im Kino Colisée erläutert, um Zuschauer für das Festival zu motivieren. Mehr als 3000 Kinder aus öffentlichen Schulen in Marrakesch und der Umgebung werden hier zum ersten Mal in ihrem Leben einen Film im Kino sehen! Die Begegnungen, die ich auf dieser Tour machen durfte, sind auch für mich eine große Motivation.

Das Gespräch führte Jochen Kürten