Deutschsein ist kein Zuckerschlecken: Totes oder Lebendiges studieren?

0
262

1983 stand Zhang Danhong vor der Qual der Studienwahl und der Frage: rein in den Elfenbeinturm oder raus in die Realität? Sie wusste, was sie wollte. Doch in China haben die Eltern ein Wörtchen mitzureden.

Zhang Danhong im Brauhaus Sion in Köln

Stellen Sie sich Folgendes vor: Sie bewerben sich um einen Studienplatz im Fach Chemie und haben schon alle Formulare ausgefüllt. Doch ihre Mutter denkt im Stillen: Chemie ist blöd, zu viel Gift, mit dem mein Kind sein Leben in Gefahr bringt. Mathematik ist doch viel besser – kein Risiko für Leib und Seele. Also ändert Frau Mama Ihre Wahl, ohne Sie davon in Kenntnis zu setzen. Und Sie staunen nicht schlecht, eines Tages eine Zulassung für ein Mathe-Studium zu erhalten.

Was würden Sie in diesem Fall tun? Mit Ihrer Mutter brechen? Sie vor Gericht zerren wegen Urkundenfälschung? Selbst wenn Sie ihr zugute halten, was sie alles für Sie getan hat und nicht zu diesen extremen Mitteln greifen, ist zu Hause ein Tsunami programmiert. Ihr Verhältnis wird sich davon wohl auch nicht mehr erholen.

In China ist die Situation eine völlig andere. Dort ist man auch mit 18 Jahren noch längst kein Erwachsener, der sich selbst krankschreiben darf und dem eine weitreichende Entscheidung zugetraut wird. Und Eltern genießen einen ganz anderen Stellenwert als hierzulande. Die Jahre, die sie mehr auf dem Buckel haben, machen sie in den Augen der Kinder erfahrener und weiser. Und grundsätzlich wird unterstellt, dass sie nur das Beste für ihre Kinder wollen und deswegen jede Entscheidung in deren Sinne fällen. Also bestehen junge Chinesen darauf, dass die Eltern bei der Studienwahl mitdenken und mitreden. Erschwerend kommt hinzu, dass Chinesen nur einen einzigen Schuss frei haben. Sie können nicht ein Medizin-Studium anfangen, um im zweiten Semester festzustellen, dass sie beim Anblick von Blut in Ohnmacht fallen und dann doch lieber zu Jura wechseln. Dieser eine Schuss muss daher sitzen.

Wie viele Kafkas sind unter uns?

Es ist schon hart, einem 18-Jährigen die Vorstellung abzuverlangen, welcher Beruf ihm wohl ein Leben lang Freude bereitet. Die falsche Wahl kann einen ins tiefste Unglück stürzen. Wie im Falle von Franz Kafka: Die Arbeit für eine Versicherung war für ihn die reinste Hölle. Wobei solch ein Unglück auch zu ungeahnter Kreativität verhelfen kann – eben wie bei Kafka. Aber Depression ist ja nicht der Zustand, in welchem Eltern ihre Kinder gerne sehen.

Sicher, das richtige Fach gewählt zu haben?

Also wird hier wie drüben zwischen den jungen Erwachsenen und den Eltern diskutiert, abgewogen und oft gemeinsam entschieden. In China fast immer gemeinsam. Zwar ist es auch dort nicht gang und gäbe, dass die Eltern das Beschlossene eigenmächtig wieder ändern. Doch manchmal kommen den fürsorglichen Eltern die Geistesblitze erst im letzten Augenblick. Wie im Falle eines chinesischen Freundes von mir, der “Anglistik” als ersten Studienwunsch angegeben hatte. Seine Mutter, die als letzte das Formular in der Hand hielt, dachte, in diesem Studium müsste sich ihr Sohn die meiste Zeit mit Dichtern und Schriftstellern beschäftigen, die bereits das Zeitliche gesegnet haben. Warum nicht ein Fach studieren, bei dem er mit Lebendigen zu tun hat? Also hat sie “Anglistik” gestrichen und “Chinesisch für Ausländer” hineingeschrieben.

Brav hat mein Landsmann dieses Fach studiert und war im Nachhinein seiner Mutter für diese in deutschen Augen unerhörte Anmaßung dankbar: weil er mit den erworbenen Kenntnissen deutsche Manager unterrichten konnte, die zu seinen Förderern wurden. 

Lebendige Lyrik toter Dichter

Ohne diese Mutter zu kennen, versuchte auch meine Mama mit demselben Argument, mich von meinem Vorhaben abzubringen, Germanistik mit Schwerpunkt deutscher Literatur zu studieren. “Goethe, Heine oder Schiller sind alle längst gestorben. Willst Du Dein ganzes Leben Toten widmen? Außerdem wirst Du niemals so gut sein wie ein deutscher Germanist.” Mit dem letzten Satz hatte sie womöglich sogar recht.

Heinrich Heine: König der Ironie, aber auch der zarten Liebesgedichte

Wie hatte ich mich aber nach fünf Jahren Fremdsprachenschule darauf gefreut, endlich Goethes “Faust” im Original zu lesen und Heinrich Heine richtig kennenzulernen! Der Kollege meines Vaters, der mir die ganzen Kästner-Kassetten geliehen hatte, hat mir auch das erste Heine-Gedicht beigebracht, das ich sofort auswendig lernte: “Leise zieht durch mein Gemüt, liebliches Geläute. Klinge, kleines Frühlingslied. Kling hinaus ins Weite. Kling hinaus, bis an das Haus, wo die Blumen sprießen. Wenn Du eine Rose schaust, sag, ich lass sie grüßen.” Wie habe ich diese Zeilen geliebt! Diese Melodie, die Leichtigkeit und das zarte Verliebtsein. Ich wollte viel mehr von ihm lesen. Es waren ja nicht nur Tote, mit denen ich mich auseinandersetzen würde: Günter Grass oder Anna Seghers – lebendiger geht es doch gar nicht! Ihre neuen Werke kann ich in gleicher Weise analysieren wie ein deutscher Germanist.

Wink des Schicksals

Mein Vater schwieg. Was sollte er auch sagen? Dass er eigentlich ein Herz für tote Dichter hatte? Wie oft hatte er für mich Puschkin-Verse rezitiert? Es lag ja an den geopolitischen Rahmenbedingungen, dass er mit seinem Studium der russischen Literatur beruflich nichts anfangen konnte. So wie ich ihn kenne, war er hin und hergerissen zwischen der Sympathie für meinen Plan und der Überzeugung, dass die Vernunft für den Vorschlag meiner Mutter sprach, mich an der Hochschule für Wirtschaft und Außenhandel zu bewerben. Die unglaublichen Chancen, die mit der Öffnungspolitik einhergingen, machten diese Hochschule im Jahr 1983 für die jungen Chinesen zu einer der begehrtesten Studienadressen überhaupt.

Ein Familienkonflikt der Sonderklasse braute sich zusammen, der sich aber einfacher löste als ich dachte: Nach eingehender Recherche kam mein Vater eines Tages mit der Nachricht nach Hause, dass an dieser Hochschule nur alle vier Jahre Abiturienten mit Deutsch als Fremdsprache aufgenommen werden. Ich hätte noch ein Jahr warten müssen. Ein Jahr in Warteschleife ist aber im chinesischen Bildungssystem nicht vorgesehen.

“Das nennt man Schicksal”, sagte ich meiner Mutter mit einem Augenzwinkern. Nun genoss ich die Vorfreude auf all die toten und lebendigen Autoren!

Zhang Danhong ist in Peking geboren und lebt seit 30 Jahren in Deutschland. In der Serie “Deutschsein ist kein Zuckerschlecken” schreibt sie einmal wöchentlich über ihre ersten Kontakte mit der deutschen Sprache und ihre Integration in Deutschland.