Frucht der Angst: Politischer Populismus

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Populistische Politiker sind im Aufwind. Fast rund um den Globus legen sie zu, immer häufiger gewinnen sie Wahlen. Was macht den Populismus so attraktiv? Und wie seriös ist er? Eine Spurensuche in fünf Ländern.

Ein Populist – wer ist das nicht? Alle – jedenfalls fast alle – sind Populisten, auch die, dies es gar nicht sein wollen. Denn der Populismus hat gesiegt. Er gibt die Tonlage der Debatten vor, er schneidert die Argumente zurecht, er weiß, wie man die Leute anspricht. Nein, man muss sich keine Illusionen machen, schreibt der italienische Journalist und Publizist Stefano Felti: Der Populismus hat gewonnen. In Italien, aber auch sonst in Europa, dazu auch über Europas Grenzen hinaus. Der Beweis? “Alle Parteien, alle Intellektuellen, die Zeitungen und Fernsehsender haben Sprache, Agenda, Instrumente und Parolen des Populismus übernommen.” Das, so Felti in seinem Buch “Populismo sovrano”, hätten sie aus reinem Opportunismus getan – “so wie sie das früher etwa mit dem Kommunismus, und in den 90er Jahren mit dem ‘Dritten Weg’ getan haben.”

Feltis Argument, könnte man sagen, ist seinerseits ein wenig populistisch. Jedenfalls wenn man unter Populismus auch die Tendenz zu grober Verallgemeinerung versteht, den Hang, eine symbolische Ordnung in die Dinge hineinzuweben, die sie in der Wirklichkeit gar nicht haben – einfach darum, weil in der Wirklichkeit alles viel komplizierter ist. Die Dinge sind differenziert, und die Menschen sind es auch. Das Volk, zitiert der Politikwissenschaftler Jan-Werner Müller in seinem Buch “Was ist Populismus?” den Philosophen Jürgen Habermas, “tritt nur im Plural auf”. Das gilt bis auf Weiteres auch für die Spezies der Politiker. 

Gleichwohl diagnostiziert Felti ein Phänomen, das in nahezu allen europäischen Ländern Wirklichkeit geworden ist, auch und gerade in Italien. Dort gibt es mit der “Lega” und den “Cinque Stelle” sogar zwei Parteien dieses Typs: eine rechts- und eine linkspopulistische.

Das eigene Land nicht mehr erkennen

Beide Parteien artikulieren vor allem eines: ein diffuses, auf vielerlei Ebenen sich artikulierendes Unbehagen. Ernesto Galli della Loggia, Journalist des “Corriere della Sera”, macht es an vielerlei Phänomenen fest. Auch an Kleinigkeiten. Etwa an der, dass im Jahr 2017 beim Filmfestival von Cannes kein italienischer Film anlief – zum ersten Mal in der Geschichte des Festivals überhaupt. Das ist nun nicht weiter tragisch. Aber auf ganz eigene Weise doch auch vielsagend.

Auch eine Form von Abstieg: die Filmfestspiele Cannes 2017 ohne Italien

Denn der Ausfall in Cannes, schreibt della Loggia, stehe in einer Reihe mit anderen, erheblich ernsthafteren Phänomenen: einer stagnierenden Ökonomie; sinkenden Einkommen; dem mangelhaften Zustand der Straßen (durch den Einsturz der Polcevera-Brück in Genua tragisch offenbar geworden); dem schlechte Zustand der öffentlichen Verkehrsmittel; der mangelnden Effizienz der Bürokratie; mehreren nicht immer nachvollziehbaren Gerichtsurteilen. Die Liste ließe sich fortsetzen. Und sie führe dazu, dass die Italiener ihr Land nicht mehr wiedererkennten, so della Loggia.

All dies führt zu einem diffusen Unbehagen, auf das die Italiener keine Antwort wüssten. Und zwar erst recht, so der Soziologe Marco Revelli, keine politische. Das Unbehagen, schreibt er, sei vor allem eines: ein stummer Seelenzustand. Es vermöge sich nicht zu artikulieren, und zwar vor allem darum nicht, weil die Massenparteien alten Stils, erschüttert durch zahlreiche Skandale, sich aufgelöst hätten und die Wählerschaft sich “verflüssigt” habe. Darüber sei sie zerlaufen und finde nun zu keiner geschlossenen Form, sprich: zeitgenössischen Massenparteien mehr. Das Land habe kaum mehr Politiker, die egalitäre Anliegen verfolgten, die sich der Abgehängten wie auch der verunsicherten Mittelschicht annähmen. “Ohne eine angemessene Sprache, in der sie ihre eigene Geschichte erzählen könnten, sind die Bürger zurückgeworfen auf Ressentiment und Groll.”

Eben dann schlage die Stunde der Populisten. Sie setzten vor allem auf eines: den direkten Kontakt mit ihren potentiellen Wählern, jenseits aller Strukturen und Institutionen. Da scheint sie dann auf, die Macht des direkten, wärmenden Worts, die viele an ihre selbsternannten Repräsentanten bindet.

Eben das, schreibt der Politikwissenschaftler Jan-Werner Müller, sei Kennzeichen populistischer Politiker: “Populisten behaupten: ‘Wir sind das Volk’. Sie meinen jedoch – und dies ist stets eine moralische, keine empirische Aussage (und dabei gleichzeitig eine politische Kampfansage): ‘Wir – und nur wir – repräsentieren das Volk.'”

Umstrittene Elitenkritik von rechts: AfD-Chef Alexander Gauland (li.)

Kritik an den Eliten

Alexander Gauland, einer der Bundessprecher und Fraktionsvorsitzenden der “Alternative für Deutschland” (AfD), hat Anfang Oktober in einem Aufsatz für die “Frankfurter Allgemeinen Zeitung” umrissen, welche Gruppen in seiner Partei zueinander gefunden hätten: “Zum einen die bürgerliche Mittelschicht, zu der auch der wirtschaftliche Mittelstand gehört, der nicht einfach seine Unternehmen nach Indien verlagern kann, um dort besonders billig zu produzieren; zum anderen viele sogenannte einfache Menschen, deren Jobs oft miserabel bezahlt werden oder nicht mehr existieren, die ein Leben lang den Buckel krumm gemacht haben und heute von einer schäbigen Rente leben müssen. Das sind zugleich diejenigen, für die Heimat noch immer ein Wert an sich ist und die als erste ihre Heimat verlieren, weil es ihr Milieu ist, in das die Einwanderer strömen. Sie können nicht einfach wegziehen und woanders Golf spielen.”

Gaulands Artikel ist vielfach kritisiert worden. In der Elitenschelte, die er dort formulierte, sahen einige Kritiker etwa eine zeitgenössische Umformulierung ehemals antisemitischer Motive. Die “Heimatlosigkeit”, einst ein zentraler Topos antisemitischer Hetze, tauche bei Gauland in neuem Gewand auf, nur dass es sich nun gegen die globalisierten Eliten richte. Andere monierten die polemische oder fremdenfeindliche Zuspitzung in dem Artikel, etwa in der den Einwanderern gewidmeten Passage.

Frankreich von den Rändern her gesehen

Allerdings formuliert Gauland Probleme, die zu beheben auch zentrale Anliegen einer sozial- und christdemokratischen Politik sind. Dass die großen Parteien es offenbar nicht vermocht haben, sie zufriedenstellend zu lösen, dürfte den Erfolg der AfD ganz wesentlich ausmachen. Das zumindest lehrt der Blick auf das Nachbarland Frankreich. Der aller populistischen Umtriebe unverdächtige Sozialgeograph Christophe Guilluy hat in mehreren stark beachteten Büchern den Niedergang der französischen Sozialisten untersucht. “La France Periphérique” (“Das periphere Frankreich”) heißt sein bekanntestes Buch, in dem er sich der im doppelten, nämlich sozial und geographisch an den Rand geschobenen französischen Unterklasse widmet, die nach dem Rückbau großer Industrien ein kümmerliches Dasein an den Rändern der Gesellschaft friste. “Keine Partei, vor allem keine linke, vertritt ihre Interessen, nimmt sich ihrer Verzweiflung an. Die entsprechenden Organisationen, einschließlich der Gewerkschaften, vertreten sie nicht mehr.”

Der Zorn der Straße: rechtsextreme Demonstranten am Maifeiertag 2017 in Paris

Wie Revelli für Italien diagnostiziert Guilluy für Frankreich die Existenz einer sich selbst überlassenen Klasse, die sich, erweitert um prekär gewordene Mittelschichten, in ihrem Groll neuen politischen Figuren zuwende, in diesem Fall einer weiblichen: Marine Le Pen, der Chefin der Nationalen Sammlungsbewegung, früher Front National.

In seinem jüngsten Buch “No society” weitet Guilluy seine Analysen auf die immer prekärer lebende Mittelschicht nicht nur in Frankreich aus. Der Titel spielt an auf ein berühmt-berüchtigtes Wort der ehemaligen britischen Premierministerin Margaret Thatcher: “There is no such thing as society” – “etwas wie Gesellschaft gibt es nicht”. Die in dieser Formel implizierte Politik – die weitgehende Auflösung sozialstaatlicher Bande – habe die Grenzen zwischen den politischen Lagern geschliffen und die Politik zu einem Schauspiel werden lassen, so Guilluy: “In der westlichen Welt ist die Zugehörigkeit zur Rechten oder zur Linken oft nur noch eine Attitüde, ein aufgetragener Lack, ein Rollenspiel, das es erlaubt, eine aufgesetzte Debatte anzustoßen, um sich dann auf das Wesentliche zu konzentrieren: ein Gesellschaftsmodell zu verteidigen, von dem man profitiert.”

Angst vor den anderen

Guilluys Analyse beschränkt sich nicht nur auf Europa. Sie gilt in weiten Teilen auch für die USA. Die bedrohte oder zumindest sich bedroht fühlende Mitte, so der an der Universität Siegen lehrende Amerikanist Daniel Stein, war es dann auch, die Donald Trump zu seinem Wahlsieg verhalf. “Es ist ja nicht so, dass vor allem die ganz armen Leute Trump gewählt hätten”, so Stein im DW-Interview. “Es waren vielmehr die Stimmen von Personen aus der Mitte der Gesellschaft, die den Unterschied machten. Diese Leute haben oft das Gefühl, ihr Land nicht wiederzuerkennen. Manche haben Angst vorm sozialen Abstieg, andere sind gegen ein pluralistisches und offenes Amerika. Sie verachten zudem das, was sie als politische und akademische Eliten bezeichnen. Und dann kommt jemand wie Trump, der alle etablierten Regeln ignoriert, der vorgibt, in Washington und der Welt aufräumen zu wollen und die Interessen seiner Wähler gegen jede politische Korrektheit durchzusetzen. Und das empfinden viele als sympathisch, zumal rechte TV-Sender wie FOX News dieses Bild rund um die Uhr bestätigen.”

Vor allem aber treibe Trumps Wähler die Angst. Er erkenne sein Land nicht mehr wieder, schreibt der italienische Journalist Ernesto Gallo della Loggia. Die gleiche Entfremdung empfänden auch viele Amerikaner, so Stein. “Angesichts der demographischen Entwicklung werden in rund 25 bis 30 Jahren die sich selbst als weiß verstehenden Amerikaner nicht mehr die Mehrheit bilden. Es gibt Bundestaaten, die inzwischen einen stark hispanischen Einschlag haben. Die Präsenz dieser Menschen verändert die amerikanische Gesellschaft, und nicht jeder ist damit einverstanden.”

“Verteidigt den amerikanischen Traum”: Solidaritätsdemonstration mit den “Dreamern”, Los Angeles, September 2017

Trump und der amerikanische Traum

Trump wisse um diese Ängste, so Stein, und er wisse auch das damit verbundene Gewaltpotenzial rhetorisch zu befeuern. Daher habe er im Wahlkampf versprochen, eine Mauer an der Grenze zu Mexiko bauen zu wollen. Darum auch habe er angekündigt, die sogenannten “Dreamers” abschieben zu wollen. “Das ist natürlich eine sehr unamerikanische Idee”, so Stein. “Menschen abzuschieben, die sich engagieren und einbringen, die eigentlich nur den ‘American Dream’ leben wollen – das zu tun ist Ausdruck eines tiefsitzenden Rassismus und einer für Populisten attraktiven Fremdenfeindlichkeit”. Damit könne Trump punkten. “Einige seiner Wähler leben in Städten, in denen innerhalb weniger Jahrzehnte die ehemals weiße Mehrheit zu einer Minderheit geworden ist. Diese Leute haben das Gefühl, dass das Amerika, das sie zu kennen glaubten, im Untergang begriffen ist, und sie bekommen es im rechten Talk Radio und Fernsehen immer wieder vorgeführt”, so Stein.

Trump habe ein weiteres Kunststück vollbracht, so Stein: Er habe es geschafft, seine politischen Versprechen und seine tatsächliche Agenda weit auseinanderklaffen zu lassen, ohne dass dies größere Kritik aus den eigenen Reihen ausgelöst hätte. “Die Gesundheitsreform, die Obama angestoßen hat, wäre zum Beispiel eine Möglichkeit, Abstiegsängste zu lindern. Aber genau diese Reform wollen die Republikaner wieder loswerden. Da besteht ein Widerspruch zwischen den populistischen Forderungen aus dem Wahlkampf und einer knallharten rechten Politik, die vor allem der oberen Schicht und den Großkonzernen nutzt.”

Brasiliens äußerster rechter Rand: Jair Bolsonaro bei einer Wahlveranstaltung in Rio de Janeiro im Oktober 2018

Brasilianer verzweifeln an der Politik

Ende Oktober gehen in Brasilien die Präsidentschaftswahlen in ihre zweite, entscheidende Runde. Favorit ist der als Rechtspopulist oder gar Rechtsextremist geltende Jaire Bolsonaro- ein Mann, der immer wieder gute Worte für die brasilianische Militärdiktatur der 1960er und 70er Jahre findet. Auch Bolsonaro wende sich vor allem an die Mittelschicht, sagt Claudia Zilla, Forschungsgruppenleiterin für Amerika bei der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik. Bolsonaros Wähler hätten durchaus eine gute Bildung, so Zilla im Gespräch mit der DW. “Aber diese Menschen haben den Eindruck, dass die anderen Parteien sich voneinander kaum unterscheiden und dass Politik ein korruptes Geschäft sei.” Damit lägen die Menschen gar nicht falsch, so Zilla weiter. Tatsächlich seien die Brasilianer in den letzten Jahren Zeugen mehrerer großer Korruptionsaffären unter Politikern geworden.

Zwar sei auch Bolsonaro selbst ein langjähriger Berufspolitiker. “Aber er hat immer wieder gesagt, er gehöre nicht zu dieser schmutzigen Politik. Er werde sich um die Leute kümmern und sich mit den Problemen Brasiliens befassen. Diesen Diskurs kaufen die Leute ihm ab.”

Einen Teil seines Erfolgs verdankt Bolsonaro den einflussreichen evangelikalen Gruppen. Deren Prediger haben ganz offen für ihn geworben. Ein Zufall sei das nicht, so Zilla: Populisten des rechten Lagers und Evangelikale pflegten eine ähnliche wertkonservative Agenda. “Es geht um Ordnung, es geht um Familie, es geht um die traditionellen Werte, es geht um die Privilegierung heterosexueller Ehen.” Neue Pfingstkirchen setzten zudem häufig in ihren Gottesdiensten auf Inszenierungsstrategien, die denen der Populisten ähnelten. Beide suchten den unmittelbaren Kontakt zu den Menschen, beide appellierten in erster Linie an die Emotionen und – wenn überhaupt – erst in zweiter an den Intellekt.

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Auf ein Wort… Populismus

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Auf ein Wort… Populismus

Populismus als Kampf ums Ganze

Den Populismus, so der argentinische Politikwissenschaftler Loris Zanatta in der Zeitung “Clarín”, stilisiere politische Auseinandersetzungen zu einem Kampf ums Ganze. “Der Horizont des Populismus ist das verheißene Land, die Auslöschung der Sünde, die Rückkehr des Volkes zu seiner ursprünglichen Reinheit. Um nichts Geringeres geht es. Aus diesem Stoff nährt sich seine große Erzählung: der ewige Kampf des Guten gegen das Böse.”

Allerdings, warnt Zanatta, müsse man sehen, was am Ende konkret herauskomme. In einer angstgetriebenen Welt hat der Populismus viele Versprechen gemacht. Jetzt muss er zeigen, wie er es mit der Umsetzung hält.