500 Meter bis zum Elend

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Die Olympischen Jugendspiele in Buenos Aires sind in vollem Gange – viele Versprechungen wurden an sie geknüpft, auch für die arme Bevölkerung in den Elendsvierteln. Gehalten wurde wenig.

Am ersten Wettkampftag der Olympischen Jugendspiele in Buenos Aires läuft im Parque Urbano, einem der vier großen Komplexe dieser zwölftägigen Veranstaltung, alles genau so, wie es sich die olympischen Organisatoren gewünscht haben: Jung, hipp und urban. Es ist einer der ersten wunderbaren Frühlingstage in Buenos Aires, die Sonne strahlt und der Park ist voller Menschen. Im weitläufigen Gelände im Zentrum der Drei-Millionen-Metropole finden verschiedene Wettbewerbe statt: 3er-Basketball, Breakdance, Klettern und BMX Freestyle, ein Stück im eleganten Hafengelände weiter das Rudern. Doch nicht nur das, denn dem Konzept der Jugendspiele entsprechend, sind auch etliche weitere Angebote für das Publikum und die jungen Sportler – die rund 4000 Athleten sind zwischen 15 und 18 Jahren alt – im Programm. Clowns laufen herum, es warten kleine sportliche Herausforderungen und Geschicklichkeitsübungen, eine Station bietet Body Painting. Kinder vergnügen sich an überdimensionierten Seifenblasen, unermüdliche Helfer verteilen Stofftüten mit dem Spiele-Logo für Abfälle. Alles ist sauber, bunt und fröhlich. Weit und breit keine VIP Lounges oder Ehrentribünen mit alternden Sportfunktionären in dunklen Anzügen. Überall dröhnt laut Musik aus riesigen Lautsprechern. Das Ganze wirkt eher wie ein Summer Jam Festival als Olympische Spiele.

Die Porteños, – wie die Einwohner von Buenos Aires heißen – die hier ihren freien Sonntag verbringen, stehen geduldig in der Sonne Schlange und machen dem Klischee sportbegeisterter Latinos alle Ehre. Vor allem sind es Familien mit Kindern, die meist selbst irgendwo herumtollen und für die die Wettkämpfe offensichtlich Nebensache sind. Dass so viele gekommen sind, hat vermutlich weniger mit ihrem Interesse für den internationalen Basketball-Nachwuchs zu tun, sondern schlicht damit, dass es eine Chance ist, einen unterhaltsamen Sonntag zu verbringen, der zudem nichts kostet. Der Zugang zum Park und allen Wettkampfstätten ist gratis, man musste sich nur vorher online registrieren und ein Armband abholen, das als Eintrittskarte gilt. Argentinien steckt mitten in einer tiefen Wirtschaftskrise, die Inflation liegt bei über 40 Prozent, Gas und Strom werden ständig teurer, die Gehälter aber steigen nicht. Gerade die Menschen der Mittelschicht müssen momentan jeden einzelnen Peso zählen. Da kommt so ein Angebot gerade recht. Laut Organisationskomitee wurden über 600 000 dieser Armbändchen ausgegeben.

Kein Strom- oder Wassernetzt, keine Kloaken, keine Müllentsorgung

Doch für viele Menschen in Buenos Aires ist selbst ein solcher Tag in einem der olympischen Parks undenkbar. Zum Beispiel für die Bewohner der Villa 20, eines der Elendsviertel im Süden der Stadt, dem ärmsten der 15 Bezirke. In der Villa 20 leben geschätzt über 30 000 Menschen und es nicht mal die größte und ärmste Ansammlung von prekären Behausungen in einer Stadt, in der rund 20 Prozent statistisch als arm gelten. Marcos Chincilla ist hier geboren, aufgewachsen und lebt auch noch heute in diesem Viertel, im oberen Teil, nahe der kleinen Kirche und dem Fußballplatz, dort, wo die etwas stabileren Häuser stehen und die Straße zumindest teilweise asphaltiert ist. Chinchilla engagiert sich gemeinsam mit anderen Bewohnern seit zehn Jahren, damit die Lebensbedingungen in der Villa besser werden. Obschon verschiedene Gesetze verabschiedet wurden, welche die so genannte Reurbanisierung vorantreiben soll, ist fast nichts geschehen. Die Mehrheit der kleinen meist quadratischen Häuser, von denen bis zu drei aufeinander gebaut wurden, hat keinen regulären Anschluss ans städtische Strom- und Wassernetz, es gibt keine Kloaken und keine Müllentsorgung. Wenn es regnet, stehen die Bewohner hier bis zu den Knien im Schlamm, der noch tagelang in ihre Wohnungen läuft.

20 Meter neben dem Olympischen Dorf waren lange Zeit Protestbanner zu sehen. Auf denen war etwa “Der Bau des Olympischen Dorfs = Zerstörung unseres Wohnraums” zu lesen. Kurz vor der Anreise von Athleten und Medien wurden diese entfernt. (FOTO: privat)

Neben einem riesigen Haufen von Mülltüten, in denen streunernde Hunden nach Essbaren wühlen, treffen wir Reporter gemeinsam mit Marcos einen hageren älteren Mann, der den hier typischen Matetee trinkend auf einem Höckerchen sitzt. Im Müll habe er eine Gesamtausgabe von Friedrich Nietzsche gefunden, erzählt er uns und holt sie nicht ohne Stolz zum Beweis gleich aus seinem Verschlag. “Was hier passiert, also, besser gesagt was hier nicht passiert – Du siehst es ja! – das ist einfach ein Skandal,” sagt er und schimpft auf die aktuelle neoliberale Regierung seines Landes unter Präsident Mauricio Macri. Er sammelt und repariert Dinge, Lampenständer, Stühle, Regalbretter, die hinter ihm im Freien stehen. Die Olympischen Jugendspiele? Es gibt viel zu viele andere, existenzielle Probleme. Marcos Chinchilla erzählt uns, dass die Kindersterblichkeit in der Villa 20 die höchste von ganz Buenos Aires ist und auch die Statistik der Tuberkolose-Fälle führt dieses Viertel an.

Hohen Neubauten versperren die Sicht auf das Elendviertel

Die Vergabe der Spiele und das ursprüngliche Projekt hatten vielen Menschen hier Hoffnung gemacht, denn die Wohnungen des neu errichteten Olympischen Dorfs sollten im Anschluss zu Sozialwohnungen werden, zu einem Drittel auch für die Bewohner der Villa 20, die nicht nur keine Kredite bekommen würden, sondern oft gar kein Bankkonto haben. Das Olympische Dorf ist keine 500 Meter entfernt. Doch die Pläne änderten sich. “Niemand aus diesem Viertel hier wird in eine Wohnung des olympischen Dorfs ziehen können,” ist Marcos sicher: “Die Voraussetzungen, um sich überhaupt als Kandidat registrieren zu lassen, die erfüllt hier niemand”. Am äußeren Rande der Villa 20 hat man immerhin eine Reihe von Neubauten errichtet, in die Familien des Elendsviertels bald umziehen können.

Damit sind zwar die Probleme der desaströsen Infrastruktur für die Mehrheit immer noch nicht gelöst, aber immerhin können die internationalen Gäste im Olympischen Dorf das Elend nicht sehen. Von der Straße her kann man die engen Gassen der Villa und das Leben hier nicht mal mehr erahnen. Marcos Chincilla glaubt nicht, dass Horacio Rodríguez Larreta, Parteifreund von Macri und Bürgermeister von Buenos Aires, sich nach den Spielen weiter um den armen Süden der Stadt kümmern wird. Zudem ist schon jetzt klar, dass diese zwölf Tage Spiele die wirtschaftliche Misere nur verschlimmern werden, denn für eventuelle Mehrkosten kommt wie immer nicht das Internationale Olympische Komittee (IOC) sondern die Ausrichterstadt auf. Bereits im letzten September erklärte OK-Chef und IOC-Mitglied Gerardo Werthein Kosten von 450 Mio USD, obschon der usprüngliche Etat nur 231 Millionen USD umfasste.

Des einen Traum ist des anderen Albtraum

Dass die Porteños nie gefragt wurden, ob sie diese Spiele wollen und auch nie über die Kosten informiert worden sind, ist da ganz praktisch. Die Verantwortlichen sitzen in diesen Tagen bei Pressekonferenzen oder in riesigen klimatisierten Konferenzhallen und schwärmen: “Das ist hier ein wahr gewordener Traum”, sagte Horacio Rodríguez Larreta im Olympischen Dorf. Staatspräsident Mauricio Macri erklärte bei einer Veranstaltung des zeitgleich tagenden Internationalen Olympischen Komitees vor hunderten geladenen IOC-Gästen: “Argentinien ist ein großartiges Land” und Thomas Bach sprach von “Respekt und Freundschaft” und einer “großartigen Zukunft für den Sport”. Von einer hoffnungsvolleren Zukunft für die Bewohner der Villa 20 spricht jedoch niemand.