Leben in Vielfalt

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Kann ein biblisches Gebot eins zu eins aus dem Evangelium übernommen werden und in der heutigen Zeit gelten? Dominikanerpater Bernhard Kohl geht im Beitrag der katholischen Kirche einem Problem theologischer Ethik nach.

„Was aber Gott verbunden hat, das darf der Mensch nicht trennen.“ – Der Evangelientext, der in der katholischen Kirche an diesem Sonntag im Gottesdienst gelesen wird (Mk 10,2-16), ist gewissermaßen eine heikle Stelle im Markus-Evangelium. Darin geht es um die Frage der Ehescheidung und der Wiederverheiratung. Sie spricht also einen aktuellen Diskussionspunkt in der katholischen Kirche an – ein heikles Thema, zumal Wiederverheiratungen in orthodoxen und evangelischen Kirchen möglich sind.

Der Text weist allerdings darüber hinaus auch auf ein generelles Problem theologischer Ethik hin: Ein biblisches Gebot bereitet Schwierigkeiten, wenn man es mit unserer Gegenwart, mit unserer Realität in Verbindung bringt. Zunächst bieten sich wohl folgende Alternativen an, mit dem biblischen Text umzugehen:

  • Entweder, ich kann davon ausgehen, dass das Wort Gottes in der Bibel möglichst wörtlich übernommen und angewendet werden muss. Diese „fundamentale“ Variante führt schnell zu Widersprüchen und Schwierigkeiten.
  • Oder, ich kann alternativ davon ausgehen, dass in der Heiligen Schrift Gottes Wort von menschlichen Autoren in menschliche Sprache und kulturelle Kontexte gefasst wurde. Dann muss ich die in der Bibel enthaltene Erfahrung von Menschen mit Gott aber immer wieder und je neu im aktuellen historischen und kulturellen Zusammenhang deuten und zu Ergebnissen kommen, die es mir erlauben, heute den Willen Gottes zu erkennen, zu erfassen und lebbar zu machen.

In der Lebenspraxis Gott erfahren

Der niederländische Dominikanertheologe Edward Schillebeeckx (1914-2009), ein wichtiger Berater des Zweiten Vatikanischen Konzils, hat sich eindeutig für die zweite Alternative entschieden. Er entwickelte einen denkerischen Ansatz, den er als „kritische Praxis“ bezeichnete. Damit meinte er, dass die Lebenspraxis, sprich die ganz konkrete Lebenserfahrung von Menschen, der Theologie immer vorangeht. Lebenspraxis und Lebenserfahrung sind eben die Stellen, an denen Menschen Gott erfahren. Als Menschen haben wir nur diese Möglichkeit.

Schillebeeckx dachte deswegen darüber nach, wie wir in unserer Zeit, in unserem Alltag, in unserer Kultur Richtungen für unser Handeln finden können, die mit der Botschaft Jesu, mit dem Evangelium vereinbar sind. Das Ergebnis seines Nachdenkens besteht aus drei beherzigenswerten Aspekten:

Erstens ist es nicht möglich von einem religiösen Text auszugehen, den man nur möglichst direkt und unverändert aus der Bibel übernehmen müsste, um dann danach zu handeln. Im Gegenteil: Wo geschichtsvergessen über das Menschsein nachgedacht wird, wird ein ganz wesentlicher Faktor verneint. Uns Menschen gibt es nur als geschichtliche Wesen. Gott selbst wurde in seiner Menschwerdung Geschichte und zeitlich. Der Ort, wo der Mensch Gott finden kann, ist innerhalb der Geschichte, im Hier und Jetzt. Ich kann also nur unter den Bedingungen meiner Zeit erkennen, was uns hilft, Gott zu finden und seinen Weg zu gehen. Eine solche Erkenntnis kann sich auch von der bisher gelebten Tradition unterscheiden oder richtiger: eine neue Tradition begründen.

Zweitens: Ähnliches wie für die Bewertung einer Handlung gilt für die Bestimmung des Menschen. Der Mensch lässt sich nicht bestimmen, nicht für alle Zeit kategorisieren und in Schubladen einordnen. Auch sein Wesen können wir immer nur aus einem zeitlichen Kontext heraus bestimmen – das zeigen die unterschiedlichen Denkmodelle über den Menschen, die es im Laufe der Geschichte gegeben hat und gibt. Für Schillebeeckx ist klar: Wenn der Mensch ein Ebenbild Gottes ist, muss er mehr sein als ein Restaurator oder Konservator der Tradition. Dann muss er selber schöpferisch tätig sein, das heißt, kreativ Neues hervorbringen, neue Wege gehen. Auch in Bezug auf die Überlegungen zum Wesen des Menschen darf gelten, dass neue Traditionen angestoßen werden können.

Im Hier und Jetzt Gottes Heil erfahren

Drittens ist Schillebeeckx nicht naiv. Er weiß, dass das Leben in Uneindeutigkeit, in Vielfalt mit Trauer, Unsicherheit und sogar mit Schmerzen und Angst verbunden sein kann. Wir müssen allerdings damit umgehen. Vermutlich gibt es auch nur eine Möglichkeit für uns, mit dieser Vielfalt zu existieren: offener Austausch und Diskussion mit anderen über deren Erfahrungen mit dem Ziel, zu einer immer größeren Humanität zu gelangen. Eine solche Humanität bedeutet für Schillebeeckx, sich selbstlos für andere einzusetzen, im Vertrauen darauf, dass ein solcher Einsatz bedeutungsvoll ist. Außerdem bedeutet eine solche Humanität, ohne Misstrauen im Hier und Jetzt zu leben, im Vertrauen darauf, dass wir im Hier und Jetzt Gottes Heil erfahren.

Diese drei Punkte können eine Art Schlüssel sein, um mit dem Textabschnitt aus dem Markusevangelium umzugehen – und mit den Abschnitten in unserem eigenen Leben.

 

Zum Autor:

Bernhard Kohl OP, Dr. theol., Assistant Professor am St. Michael’s College der University of Toronto. Forschung und Veröffentlichungen zu den Themen Verletzbarkeit, Anerkennung, Post- und Transhumanismus.