Deutschsein ist kein Zuckerschlecken: Die Flatterzunge

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Die Euphorie, in die Deutschklasse aufgenommen worden zu sein, ist bei Zhang Danhong schnell verflogen. Sie verzweifelte an dem Handicap, das die meisten Chinesen beim Erlernen der deutschen Sprache aufweisen.

Die Autorin Zhang Danhong vor dem Brauhaus Sion in Köln

Die Pekinger Fremdsprachenschule befindet sich im westlichen Haidian-Bezirk, unweit von drei bekannten Eliteuniversitäten – Peking-Universität, Qinghua-Universität und der Volksuniversität. Kein Wunder, dass in den 1980er-Jahren in dieser Gegend das erste Gründerzentrum für Technologie-Unternehmen in der Hauptstadt entstanden ist, eine Art Silicon Valley Chinas.

Das Wissenschafts- und Technikzentrum Zhongguancun von heute – alles begann Anfang der 1980er Jahre

Zu meinem Schulbeginn dort, 1978, war vom Unternehmergeist und dem heute prägenden Kapitalismus noch wenig zu spüren. Diplomat galt damals im Reich der Mitte als einer der begehrtesten Berufe. Und meine Internatschule wird wiederum als die Diplomatenschmiede schlechthin bezeichnet. Das ist mehr als berechtigt, schließlich ist die Schule dem Außenministerium direkt unterstellt. Die daraus resultierenden Privilegien sind, um ein chinesisches Sprichwort zu bemühen, wie Läuse auf einer Glatze – nicht zu übersehen. Für die paar hundert Schüler ist das Schulgelände mit einer Fläche von über 70.000 Quadratmetern großzügig angelegt. Die Schule verfügt über eine Sporthalle, einen Sportplatz mit einer 400-Meter-Laufbahn und sogar ein Schwimmbad, das zwar nie mit Wasser gefüllt wurde, dafür aber eine Brutstätte für allerlei Vegetation und Insekten bot und uns während der Anti-Fliegen-Kampagne zu einem komfortablen Vorsprung gegenüber anderen Schulen verhalf. Denn wir mussten nicht mal das Schulgelände verlassen, um Unmengen von Fliegen zu eliminieren. Nicht zu vergessen unsere Mensa, deren Speiseplan mit Sicherheit die meisten meiner Landsleute vor Neid erblassen ließ.

Tomaten im Sommer, Chinakohl im Winter

Ich ahnte nicht, wie sehr sich meine Eltern einschränken mussten, damit ich mich wohl genährt der deutschen Sprache widmen konnte. Das Essensgeld für mich (rund 30 Yuan im Monat, was heute etwa vier Euro entspricht) machte nämlich knapp ein Drittel des gemeinsamen Einkommens meiner Eltern aus. Das zweite Drittel ging an die Mensa der Hochschule, an der mein Bruder Maschinenbau studierte. Der Rest musste für Miete, Strom sowie den sonstigen Lebensunterhalt für meine Eltern und meine Oma mütterlicherseits reichen. Später erzählte mir meine Mutter, dass sie all die Jahre zu Fuß zur Arbeit ging, weil sie sich kein Monatsticket für die öffentlichen Verkehrsmittel leisten konnte. Fleisch kaufte sie nur, wenn ich am Wochenende nach Hause kam. Ansonsten hielten sie sich im Sommer mit Tomaten und im Winter mit Chinakohl über die Runden.

Rettich – damals wie heute ein beliebtes und preiswertes Gemüse in China

Von all diesen weltlichen Sorgen hatte ich damals keine Ahnung. Verbissen kämpfte ich mit der deutschen Aussprache. Bis dato hatte ich gedacht, dass ich für diese exotische Sprache geboren sei. Aber von wegen! Dieses rollende “R” wollte mir einfach nicht gelingen. Wir Chinesen brauchen in unserer Muttersprache weder mit der großen noch mit der kleinen Zunge zu flattern. Deswegen ist diese eigentlich angeborene Fähigkeit, die jedes Baby in Deutschland oder Russland so selbstverständlich zum Einsatz bringt, bei uns Chinesen im Laufe der Jahrtausende verkümmert. Bei Russisch, das ich ein Jahr lang an der Grundschule hatte, kann man das Rollen mit der großen Zunge noch irgendwie vortäuschen, indem man die Zunge am Gaumen kurz und dynamisch schleift. Mit der kleinen Zunge wird es beim Schummeln schwieriger, eigentlich ganz unmöglich. Dann wird einfach aus einem “R” ein “L”. Die Chinesen können zwar über sich selber lachen, indem sie Witze verbreiten wie “Zwei plus zwei gleich viel”. Aber durch Selbstironie wird der Frust der Deutschlernenden nicht geringer.

Ein Wort, das wir am Anfang lernen mussten, brachte uns alle zum Verzweifeln. Es war der Name des größten und wichtigsten Landes, in dem Deutsch gesprochen wurde: Bundesrepublik Deutschland. Verschiedene Varianten waren im Angebot: Bummslepublik Deutschland, Bundeslepobulike Deutschland, Bundeslepublik Deuschlang usw. Die Begabtesten in der Klasse brachten bestenfalls ein “Bundeslepublik Deutschland” zustande.

Üben für die Flatterzunge

Was tun? Unsere Deutschlehrerin, die in Leipzig studiert und sich eine einwandfreie Aussprache antrainiert hatte, gab uns den Tipp, morgens beim Zähneputzen mit dem Wasser zu gurgeln. “Irgendwann könnt Ihr das ‘R’ rollen, Ihr werdet sehen”, sagte sie aufmunternd. Gleich am nächsten Tag fing ich damit an – morgens und abends. Mit Wasser im Mund konnte ich das “R” mehr als perfekt aussprechen, aber sobald das Wasser weg war, ging es wieder zum “L” über. Wir hatten einen großen Waschraum in der Mitte des Flures, wo sich Dutzende von Mädchen morgen fertig machten. Am Anfang hatte ich mit der Gurgelei gewartet, bis ich allein war. Doch mit den Tagen des Misserfolges wog der Frust schwerer als das Schamgefühl. Ich murmelte im vollen Waschraum ein ausgedehntes “RRRRRRRR” mit Spülwasser, bis mir der Atem ausging. Ich vergaß alle Mädchen um mich herum.

Einen Monat später, als ich schon daran dachte, in die japanische Klasse zu wechseln, klappte es auf einmal mit der Flatterzunge – und zwar ohne Wasser im Mund! Ich konnte nicht mehr aufhören mit dem “RRRRRRRRR”. Die anderen dachten bestimmt, dass ich völlig durchgedreht war. Doch das interessierte mich nicht. Ich war das glücklichste Mädchen auf der Welt.

Zhang Danhong ist in Peking geboren und lebt seit 30 Jahren in Deutschland. In der Serie “Deutschsein ist kein Zuckerschlecken” schreibt sie einmal wöchentlich über ihre ersten Kontakte mit der deutschen Sprache und ihre Integration in Deutschland.