Besuch am “schrecklichsten Ort der Welt”

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Auf seiner eintägigen Reise nach Polen besuchte Bundesaußenminister Heiko Maas das ehemalige deutsche NS-Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau – als erster Chefdiplomat aus Deutschland seit 26 Jahren.

Außenminister Maas (m.) mit dem Auschwitz-Überlebenden Marian Turski (in hellblauer Jacke)

Angekommen “am schrecklichsten Ort der Welt” – so beschrieb Heiko Maas das ehemalige deutsche Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Gleich am Tor mit dem zynischen Satz – “Arbeit macht frei” – wurde Maas freundlich von einem 92-jährigen Auschwitz-Überlebenden begrüßt. Marian Turski ist in Polen eine Art moralische Instanz, ein Zeuge, der noch aus eigener Erinnerung das Unvorstellbare schildert. Er begleitete den deutschen Außenminister bei dessen Besuch in Auschwitz gerne – sagt er – weil er ihn wegen seiner persönlichen Motivation schätze. “Ich bin wegen Auschwitz Politiker geworden”, sagte Maas einst über seinen politischen Werdegang.

Die beiden schritten langsam durch das staubige Gelände, an dem Stacheldraht entlang, an der Todesmauer – überall dort, wo vor über 70 Jahren ein “beispielloser Zivilisationsbruch” stattfand – so beschrieb den Ort einst Bundeskanzlerin Angela Merkel. Über eine Million Menschen wurden in Auschwitz systematisch ermordet, vor allem europäische Juden waren Opfer der industriell organisierten Vernichtungsmaschinerie. Marian Turski hatte Glück, wie er sagt. An der Rampe in Birkenau stehend erzählt er dem deutschen SPD-Politiker von seinen Schlüsselmomenten und den Szenen, die ihn verfolgen: als Nazis täglich Menschen in “noch lebenswert” und “nicht mehr lebenswert” selektiert haben. Später wird der Überlebende dem Außenminister recht geben: “Wer nach Auschwitz kommt, hat mehr Fragen als Antworten.”

Heiko Maas und Marian Turski vor der Niederlegung eines Kranzes an der Todeswand

So empfindet Maas vor allem nach dem Besuch in mehreren Blöcken im Stammlager Auschwitz. Wo damals Häftlinge untergebracht waren, ist heute die Industrie des Todes im Detail zu sehen: Berge von Schuhen, die den Menschen vor ihrem Weg in den Tod abgenommen, persönliche Gegenständen, Zahnbürsten, Haarkämme, künstliche Prothesen und diese Tonnen von Haaren, die ihnen abrasiert wurden. “Das ist schwer in Worte zu fassen”, wird Maas später sagen. “Das ist der schrecklichste Ort der Welt.”

Der Außenminister ist sichtlich erschüttert, als er das kleine Gebäude mit einem Kamin mit seiner Delegation verlässt – die einzige erhaltene Gaskammer. Er atmet durch, unterhält sich kurz und setzt sich dann an den Tisch mit dem Gedenkbuch vor dem besonderen Bau. “Die Hölle auf Erden – sie war die deutsche Schöpfung namens Auschwitz”, schreibt er rein. Und weiter: “Wir brauchen diesen Ort, weil unsere Verantwortung nie endet.”

Jedes Mal eine besondere Reise

Im November 1977 kam als allererster deutsche Politiker hohen Ranges Bundeskanzler Helmut Schmidt an den Schreckensort. “Eigentlich gebietet dieser Ort zu schweigen. Aber ich bin sicher, dass der deutsche Bundeskanzler hier nicht schweigen darf”, sagte er damals in seiner – auch heute noch – bemerkenswert aktuellen Rede. Schmidt sprach von Schuld und Verantwortung der Deutschen für den millionenfachen Mord während des 2. Weltkrieges und was es für jüngere Generationen bedeuten würde.

Helmut Schmidt besuchte Auschweitz 1977 als Bundeskanzler

In Auschwitz werde klar, so Schmidt damals, dass “Geschichte nicht nur eine kausale Kette von Ereignissen ist, sondern dass Verantwortung und Schuld dazu gehören”. Schmidts Worte prägen bis heute deutsche Politik. Wenn Heiko Maas heute als Vertreter der Nachkriegsgeneration über die deutsche Verantwortung spricht, merkt man kaum, dass zwischen seinen und Helmut Schmidts Worten Jahrzehnte liegen.

Reisen deutscher Politiker zum ehemaligen Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau finden nicht oft statt und sie sind niemals Routine – das zeichnet sie aus. Nach Schmidt besuchte auch Helmut Kohl als Kanzler Auschwitz. Mittlerweile nehmen deutsche Bundespräsidenten alle zehn Jahre an Feierlichkeiten anlässlich der Jahrestage der Befreiung von Auschwitz teil. 50 Jahre danach war Roman Herzog vor Ort, 60 Jahre später Horst Köhler, 70 Joachim Gauck. Maas ist da eine Ausnahme, denn er kommt ohne einen konkreten Anlass, vielmehr aus persönlichem Bedürfnis.

“Diese Gedanken bleiben für immer bei mir”

Darüber spricht er nach dem Besuch in Auschwitz-Birkenau mit Jugendlichen in der nah gelegenen Internationalen Begegnungsstätte. Auf ihn wartet eine Gruppe von Azubis aus Deutschland und Polen, die an einem Jugendprojekt in Auschwitz teilnahmen und einige junge deutsche Diplomatenanwärter.

Ein Mädchen berichtet von ihrer Arbeit, bei der sie Opfer-Schuhe in der Ausstellung, sowie persönliche Gegenständen der Ermordeten putzt. “Hinter jedem Teil steckt ein Drama. Das ist ziemlich bewegend”, sagt sie. Lukasz aus Polen arbeitete sich dagegen an dem Stacheldraht ab, der auf dem Gelände des ehemaligen KZs alle zehn Jahre erneuert werden muss. Er stelle sich vor, wie sich Menschen damals fühlten, wenn sie fliehen wollten und an dem Draht unter Hochspannung scheiterten. “Es erschüttert mich”, sagt Lukasz. “Ich wollte verstehen, wie Hitler überhaupt an die Macht kommen konnte”, erzählt ein junger Deutscher, Adrian, und macht klar, dass diese Gedanken bei ihm “jetzt für immer bleiben”.

Heiko Maas saß mitten im Saal, hörte zu und wollte selbst kaum reden. Viel lieber hörte er einfach zu, ähnlich wie bei der Führung durch die Gedenkstätte mit Marian Turski. Als er nach seinen eigenen Eindrücken gefragt wird, gesteht er: “Schwierig. Ich begegne letztlich meinen persönlichen Zweifeln an Gott, meinem Misstrauen gegenüber Menschen.”  Dann hört er weiter zu, wie eine junge deutsche Projektbetreuerin über die Teilnehmer spricht: Die meisten sind zwischen 16 und 18 und haben “oft das Gefühl, dass sie das Thema zwar in der Schule behandeln, aber es fehle ihnen ein authentischer Ort und die persönliche Erfahrung”. Nur wenige hätten Zugang zu dem Thema durch ihre Familien bekommen. Bei Begegnungen mit Zeitzeugen “kriegen sie ein Gefühl, warum man sich überhaupt für die Erinnerung engagieren soll”.

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Eine Holocaust-Überlebende erzählt

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Ob nicht irgendwann Schluss sein müsse – auch diese Frage fällt im Raum. “Solange wie es Menschen gibt, die diese schreckliche Zeit als Vogelschiss bezeichnen, müssen wir darüber reden und dafür sorgen, dass die Erinnerung daran wach bleibt”, meint Niklas aus Deutschland.

Die Suche nach dem richtigen Erinnern

Am Ende wendet sich das Gespräch weg von der Historie und hin zur Realität in Europa. Was würde Maas von jungen Menschen heute erwarten, will jemand wissen. “Sie sollen ihre Möglichkeiten nicht unterschätzen!” Man müsse lauter gegenüber dem Alltagsrassismus werden, die Jugend, die ihre Netzwerke auf Social Media hat, sei gefragt. Umfassbar, dass Rassisten und Populisten viel besser unterwegs seien, als die Mehrheit, die für Demokratie ist, so Maas. Dass die Demokratie nicht selbstverständlich ist, kann man “nicht nur in Deutschland sehen, sondern auch in Europa, in der Gesellschaft, in den Medien und im Parlament”, sagt der Diplomat.

Angesichts des steigenden Rassismus und Antisemitismus kam kürzlich in Deutschland die Forderung nach Pflichtbesuchen von Schüler aus Deutschland in ehemaligen KZ-Lagern. Als der Außenminister bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit seinem polnischen Kollegen Jacek Czaputowicz danach gefragt wird, lehnt er die Idee ab. “Ich bin sehr dafür, dass Auschwitz von möglichst vielen besucht wird. Aber es solle eine autonome Entscheidung jedes Einzelnen sein, sagt der Minister. Ob das noch in 10, 20 Jahren funktioniert? “Wer die Augen vor dem Geschehenen verschließt, der riskiert, dass sich die Vergangenheit wiederholt! Zukunft braucht Erinnern!”, schreibt Heiko Maas spontan ins Gästebuch der Jugendbegegnungsstätte, bevor er sie verlässt. Es klingt ein wenig, als würde er nicht nur Gutes ahnen.