“Oleg Senzow will bis zum Ende gehen”

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Der in Russland inhaftierte ukrainische Regisseur Oleg Senzow ist entschlossen, seinen fast dreimonatigen Hungerstreik trotz schlechten Gesundheitszustands fortzusetzen, sagt sein Anwalt Dmitri Dinse im DW-Interview.

Deutsche Welle: Seit dem 14. Mai befindet sich Oleg Senzow im Hungerstreik. Er fordert die Freilassung von allen ukrainischen politischen Gefangenen in Russland. Herr Dinse, wann haben Sie Oleg Senzow zuletzt gesehen? Wie hat sich sein körperlicher und geistiger Zustand seit ihrem letzten Treffen verändert?

Dmitri Dinse: Zuletzt haben wir uns am 7. August gesehen. Seine Stimmung ist normal, aufgeweckt, aber seine körperliche Verfassung hat sich erheblich verschlechtert. In Labitnangi war es zwei Wochen lang 40 Grad heiß. Eine solche Hitze verträgt er sehr schlecht, was sich auf sein Wohlbefinden ausgewirkt hat. Nicht nur Senzows chronische Herzerkrankung hat sich verschlimmert, sondern es sind auch noch Probleme mit den Nieren und der Leber hinzugekommen. Er hat zu wenig Hämoglobin. Es werden keine Blutkörperchen produziert. Er hat Anämie. Zeitweise sind seine Gliedmaßen taub. Er nimmt weiterhin Mixturen ein, um bei Bewusstsein zu bleiben.

Am 8. August hat seine Cousine Natalia Kaplan einen Brief veröffentlicht, in dem Senzow schreibt, das Ende sei nahe, und er meine damit nicht seine Freilassung. Will er den Hungerstreik immer noch fortsetzen?

Ja, er beabsichtigt nicht, seinen Hungerstreik zu beenden. Senzow will bis zum Ende gehen. Wenn er sterben muss, werde er eben sterben, sagt Oleg.

Oleg Senzow wurde schon zur Untersuchung und möglichen Behandlung in ein ziviles Krankenhaus gebracht. Doch er wollte von dort weg. Was war vorgefallen?

Oleg sagte, er sei in dem Krankenhaus wie Vieh behandelt worden. Man habe ihm gesagt, man werde ihn ans Bett fesseln und so füttern, wie man es für richtig hält. Seine Meinung zähle nicht. Daraufhin wollte Oleg sofort weg von dort. Er wollte sich nicht einem solch unmenschlichen Umgang aussetzen. Den Mitarbeitern des Krankenhauses war klar, wer bei ihnen war. Deshalb haben sie eine solche Haltung an den Tag gelegt. Oleg möchte unter keinen Umständen in dieses Krankenhaus, weil er weiß, dass man ihn dort nur verspotten wird. Im Gefängniskrankenhaus wird er ziemlich gut behandelt. Er hat mit dem Chefarzt eine gemeinsame Sprache gefunden.

Anwalt Dmitri Dinse ist die einzige Verbindung von Oleg Senzow zur Außenwelt

Vor fast einem Monat hat Senzows Mutter den russischen Präsidenten Wladimir Putin um eine Begnadigung gebeten. Warum gibt es immer noch keine Reaktion? Gab es Fälle, wo solche Ersuchen unbeachtet blieben?

Entsprechende Bitten, die unbeachtet bleiben, gibt es in Russland sehr viele. Die Begnadigungskommission kann nur formale Gründe für eine Ablehnung finden. Sie ist bewusst als Filter geschaffen worden, damit die Administration des Präsidenten mit solchen Briefen nicht überladen wird. Für die Prüfung eines Begnadigungsgesuchs braucht die Kommission zwischen zwei Wochen und einem Monat, um dann dem Präsidenten Empfehlungen zu geben. Der Fall Senzow liegt jetzt faktisch dem ersten Filter vor.

Besteht für Senzow die Möglichkeit einer vorzeitigen Haftentlassung aus Gesundheitsgründen?

In einem eigenen Abschnitt der Strafprozessordnung der Russischen Föderation steht, dass eine Person – bei der hier vorliegenden Straftat – mindestens drei Viertel ihrer Haft verbüßen muss, damit sie überhaupt um eine vorzeitige Haftentlassung bitten kann. Bei Senzow wird das nicht so schnell eintreten. Was die Erkrankungen angeht, so muss sie laut Strafprozessordnung unheilbar sein: viertes Stadium von Krebs, letztes Stadium von AIDS, Sarkome und so weiter. Oleg hat aber keine Krankheit! Er selbst sagt: “Ich bin nicht krank, ich hungere!” Wegen des Hungerstreiks entwickeln sich aber Erkrankungen. Wenn, dann würde er vor Hunger sterben, nicht an einer Krankheit.

Vor einigen Tagen haben Sie in einem offenen Brief gebeten, Senzow zur Behandlung auf die Krim zu verlegen. Aber er selbst hält das nicht für eine gute Idee. Teilen Sie seine Meinung?

Im Fall Senzow sind zwei Anwälte aktiv: Natalia Dobrewa kümmert sich um den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) und ich kümmere mich um die Arbeit im Inland. Es gab eine Entscheidung des EGMR, wonach für Senzow Behandlungsbedingungen geschaffen werden sollen, die seinen Hungerstreik und die sich verschlimmernden Erkrankungen und deren Folgen berücksichtigen. Der EGMR stellte fest, dass seine medizinische Unterstützung verbessert werden muss, aber nicht im Gefängnis, sondern in einem zivilen Krankenhaus. Ferner heißt es in den Beschluss, dass dies nicht 3000 Kilometer von seinem Wohnort entfernt, sondern auf der Krim geschehen sollte. Im Falle fataler Folgen für seine Gesundheit sollte er die Möglichkeit haben, sich von seinen Angehörigen zu verabschieden. Bei einem Treffen habe ich ihn darüber informiert. Oleg sagte, dass er sich jetzt in einem Gefängniskrankenhaus in einem normalen Zustand befinde. Er wisse ja nicht, was ihn in einem zivilen Krankenhaus auf der Krim erwarte. Er hat keine Garantie, was die Haftbedingungen auf der Krim angeht, keine Garantien für einen sicheren Transport, den er in seinem Zustand einfach nicht überleben könnte. Dementsprechend lehnte er das ab. Wenn es entsprechende Garantien geben wird, dann wird er diese Möglichkeit in Betracht ziehen. Uns Anwälten ist es wichtig, ihm die Entscheidungsmöglichkeit zu sichern.

Haben Ihrer Meinung nach die internationalen Aktionen von Kulturschaffenden und Politikern zur Unterstützung von Oleg Senzow Wirkung gezeigt? Was könnte die internationale Gemeinschaft noch tun, damit er freikommt?

Natürlich sind Aktionen einzelner Personen und auch Massenveranstaltungen weltweit sehr wichtig. Diese Aktionen sollten auf jeden Fall fortgesetzt werden. Aber man muss sich auch auf diplomatischem Wege für die Freilassung aller ukrainischen politischen Gefangenen einsetzen. Manche könnten begnadigt, andere gegen russische politische Gefangene ausgetauscht werden. Ich rate der Ukraine im Rahmen des guten Willens, einen russischen Bürger zu begnadigen, um Russland die Möglichkeit zu geben, im Gegenzug einen ukrainischen Gefangenen freizulassen, und sozusagen mit einem ersten realen Schritt diesen Prozess in Gang zu setzen.

Das Gespräch führte Anastasia Magazova.


  • “Geiseln des Kreml”? Ukrainische Gefangene in Russland

    Oleg Senzow

    Der Regisseur stammt von der Krim. In Russland wird ihm vorgeworfen, im Frühjahr 2014 auf der Krim eine terroristische Vereinigung gebildet und Anschläge geplant zu haben. Senzow wurde zu 20 Jahren Haft verurteilt, die er in einem Gefängnis nördlich des Polarkreises absitzt. Seit dem 14. Mai fordert er mit einem Hungerstreik die Freilassung aller ukrainischen politischen Gefangenen in Russland.


  • “Geiseln des Kreml”? Ukrainische Gefangene in Russland

    Aleksandr Koltschenko

    Der 27-Jährige stammt ebenfalls von der Krim. Er war Mitangeklagter im “Fall Senzow”. Wegen der “Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung und der Planung von Terroranschlägen in Simferopol” wurde Koltschenko in Russland zu zehn Jahren Haft verurteilt. Wie Senzow betont auch er seine Unschuld. Derzeit befindet er sich in einem Gefängnis im Ural.


  • “Geiseln des Kreml”? Ukrainische Gefangene in Russland

    Aleksej Tschirnij

    Auch der 34-jährige Aleksej Tschirnij stammt von der Krim und war ebenfalls Mitangeklagter im Fall der “Krim-Terroristen”. Er wurde im Mai 2014 in Simferopol festgenommen und gefoltert. Danach bekannte er sich schuldig und sagte gegen Senzow aus. Tschirnij kooperierte mit den Ermittlern und bekam letztlich sieben Jahre Haft. Er sitzt derzeit in einem Gefängnis in der russischen Region Rostow.


  • “Geiseln des Kreml”? Ukrainische Gefangene in Russland

    Sergej Litwinow

    Der 34-jährige Sergej Litwinow aus dem ostukrainischen Luhansk wurde im Sommer 2014 festgenommen. Er wurde beschuldigt, im Donbass an “Strafmaßnahmen” des ukrainischen Dnepr-Bataillons, insbesondere an Morden und Vergewaltigungen, teilgenommen zu haben. Litwinow wurde zu achteinhalb Jahren Haft verurteilt und befindet sich in einer Strafkolonie in Magadan.


  • “Geiseln des Kreml”? Ukrainische Gefangene in Russland

    Mykola Karpjuk

    Der 53-jährige Mykola Karpjuk stammt aus der ukrainischen Region Riwne. Im März 2014 wurde er in Russland wegen des Vorwurfs festgenommen, 1994 und 1995 an Kämpfen gegen das russische Militär in Tschetschenien beteiligt gewesen zu sein. Zunächst soll er gestanden haben. Später erklärte Karpjuk, er sei unter Folter verhört worden. Von einem Gericht in Grosny wurde er zu 22,5 Jahren Haft verurteilt.


  • “Geiseln des Kreml”? Ukrainische Gefangene in Russland

    Stanislaw Klych

    Stanislaw Klych wurde im August 2014 auf der Reise ins russische Orjol verhaftet. Wie Karpjuk wurde ihm vorgeworfen, sich 1994 in Tschetschenien an Kämpfen gegen die russische Armee beteiligt zu haben. Auch er beklagt, gefoltert worden zu sein, unter anderem mit Psychopharmaka. Ein Gericht in Grosny verurteilte ihn zu 20 Jahren Haft. Er befindet sich in einer Gefängnis-Psychiatrie in Magnitogorsk.


  • “Geiseln des Kreml”? Ukrainische Gefangene in Russland

    Wolodymyr Baluch

    Wolodymyr Baluch hisste über seinem Haus auf der von Russland annektierten Krim die Flagge der Ukraine. Wegen angeblicher illegaler Lagerung von Munition wurde er zu drei Jahren und drei Monaten Haft verurteilt. Wegen eines angeblichen Überfalls auf einen leitenden Gefängniswärter bekam er fünf Jahre Gefängnis. Seit dem 19. März befindet er sich aus Protest in einem Hungerstreik.


  • “Geiseln des Kreml”? Ukrainische Gefangene in Russland

    Roman Suschtschenko

    Der Korrespondent der ukrainischen Nachrichtenagentur “Ukrinform”, Roman Suschtschenko, wurde Ende September 2016 in Moskau festgenommen, als er dort seinen Bruder besuchen wollte. Im Juni 2018 wurde er wegen Spionage und des Vorwurfs, geheime Informationen über das russische Militär gesammelt zu haben, zu zwölf Jahren Haft verurteilt. Der Prozess verlief hinter verschlossenen Türen.


  • “Geiseln des Kreml”? Ukrainische Gefangene in Russland

    Pawlo Hryb

    Der 20-jährige Pawlo Hryb verschwand im August 2017 in der weißrussischen Stadt Gomel. Dort wollte er ein Mädchen treffen, mit dem er über ein soziales Netzwerk in Kontakt getreten war. Später wurde bekannt, dass ihm Terrorismus vorgeworfen wird und dass er in der russischen Stadt Krasnodar in Untersuchungshaft sitzt. Laut seinem Anwalt wurde Pawlo vom russischen Geheimdienst FSB entführt.

    Autorin/Autor: Anastasia Magazova, Danylo Bilyk, Markian Ostaptschuk