Muss das Kindergeld in Deutschland reformiert werden?

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Inzwischen zahlt Deutschland die Sozialleistungen für 270.000 Kinder, die im europäischen Ausland leben. Das sind etwa 1,8 Prozent aller Kinder, für die das Geld ausgezahlt wird. Nun werden Rufe nach Reformen lauter.

36 Milliarden Euro zahlt der deutsche Staat jedes Jahr als Kindergeld an Familien aus. Die monatlichen Leistungen stehen den Erziehungsberechtigten von mehr als 15 Millionen Kindern zu. Laut Finanzministerium lebten im Juni 2018 etwas weniger als 270.000 dieser Kinder nicht in Deutschland, sondern in anderen Staaten der EU oder des Europäischen Wirtschaftsraums. Die größte Zahl von ihnen lebt in Polen, gefolgt von Tschechien, Kroatien und Rumänien. Aufs Jahr gerechnet passieren rund 600 Millionen Euro in Form von Kindergeld die deutsche Staatsgrenze. Das sind zwar nur 1,6 Prozent des gesamten Kindergelds, die Tendenz steigt jedoch: Innerhalb eines halben Jahres hat die Zahl der Überweisungen um zehn Prozent zugenommen. Muss die Bundesregierung diese Zahlungen nun auf den Prüfstand stellen?

EU-Freizügigkeit für Osteuropäer lässt Zahlen steigen

Der Duisburger Oberbürgermeister Sören Link (SPD) findet: “Die Bundesregierung verschläft dieses Problem, sie muss endlich etwas dagegen tun, dass es Armutsflüchtlinge in Europa gibt.” In Duisburg sei die Anzahl der Menschen aus Rumänien und Bulgarien seit 2012 von 6000 auf 19.000 angestiegen. Das berge Gefahren für den gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Duisburgs Oberbürgermeister Sören Link (SPD)

Dass Bürger anderer EU-Staaten hierzulande leben und arbeiten dürfen, ergibt sich aus den Grundfreiheiten, die jeder EU-Bürger genießt. Für Menschen aus Bulgarien und Rumänen wurde der EU-weite Arbeitsmarkt 2013 geöffnet. Wenn sie in Deutschland auf Jobsuche gehen, dürfen sie dazu sechs Monate lang bleiben. Anschließend müssen sie nachweisen, dass sie weiterhin ernsthaft auf Arbeitssuche sind – ansonsten dürfen die deutschen Behörden sie ausweisen. Auf das Kindergeld haben sie Anspruch, sobald sie nachweislich ihren Hauptwohnsitz in Deutschland haben. 2017 waren rund 1,2 Millionen Bürger östlicher EU-Staaten sozialversicherungspflichtig in Deutschland beschäftigt, viermal so viele noch 2015.

In den Statistiken vom Juni 2018 tauchen fast 120.000 rumänische Kinder auf, die ihr Kindergeld in Deutschland erhalten, weitere knapp 19.000 beziehen es in Rumänien. Spitzenreiter sind Kinder aus Polen: Gut 160.000 von ihnen erhalten in Deutschland Kindergeld, weitere 117.000 erhalten deutsches Kindergeld in ihrem Heimatland.

Bayern will im Bundesrat erreichen, dass Zahlungen an Kinder im Ausland eingedämmt werden, dazu fordert die CSU gerade die SPD auf, ihre Initiative zu unterstützen. Ein Sprecher des sozialdemokratischen Finanzministers Olaf Scholz sagte hingegen, man strebe eine europäische Lösung an. Die Regierung wolle die Höhe der Familienleistungen den unterschiedlichen Lebenshaltungskosten im EU-Ausland anpassen.

Argumente für Zahlungen ins Ausland

Dabei gibt es durchaus Argumente für die derzeitige Regelung. Im Duisburger Bezirk Hamborn, zu dem auch das vielzitierte “Problemviertel” Marxloh gehört, leben nach Angaben des stellvertretenden Bezirksbürgermeisters, Claus Krönke (SPD), zwischen 3000 und 4000 Rumänen und Bulgaren. Er sagte der DW, das Kindergeld sei eine vergleichsweise kostengünstige Lösung: “Stellen Sie sich vor, die würden ihre Kinder alle hierher bringen.” Dann hätten viele Arbeiter Anspruch auf Aufstockung durch die Jobcenter. “Wir bezahlen dafür, dass die Kinder gar nicht herkommen.” Auf die gesamte Größenordnung des Kindergelds gerechnet, sei der Anteil der Zahlungen ins Ausland nicht entscheidend.

Für das Kindergeld ist die Bundesagentur für Arbeit zuständig

194 Euro gibt es jeden Monat für das erste Kind. Davon profitieren hauptsächlich Familien mit deutscher Staatsbürgerschaft, eine weitere Gruppe sind Zuzügler, die komplett in Deutschland leben und arbeiten. Und dann gibt es eben jene 270.000 Kinder, die selbst im Ausland leben, von denen jedoch mindestens ein Elternteil in Deutschland lebt und arbeitet. Ein typischer Fall dafür sind Kinder aus Bulgarien oder Rumänien, deren Väter untereinander in Deutschland Wohngemeinschaften gründen und zum Beispiel Lastwagen fahren oder Pakete ausliefern.

Es gibt Betrüger, aber keine Statistik

Für Bezirksbürgermeister Krönke liegt es nahe, dass es in diesem System auch schwarze Schafe gibt. Nach seiner Kenntnis läuft der Betrug so ab, dass Betrüger mit der Verheißung eines Lebens in Wohlstand Familien aus Rumänien oder Bulgarien nach Deutschland locken und kurzzeitig in Wohnungen unterbringen. Sie eröffneten Bankkonten und stellten Anträge, erklärt Krönke, und sobald das Kindergeld fließt, schickten sie die Familien zurück. Die Betrüger behielten die EC-Karten der Konten, um solange monatlich das Kindergeld abzuheben, bis die Familienkasse nach einem Jahr den Fall nachkontrolliere. Er selbst habe dreimal beobachtet, wie Männer in zeitlicher Nähe zum Auszahlungstag des Kindergelds “mit zehn EC-Karten am Geldautomat stehen”.

Laut Familienkasse seien Betrugsfälle zuletzt vor allem in Nordrhein-Westfalen festgestellt worden: Bei 100 Verdachtsprüfungen in Wuppertal waren in 40 Fällen fehlerhafte Angaben in den Anträgen zum Kindergeld entdeckt worden. Sie hatten der Kasse insgesamt einen Schaden von 400.000 Euro zugefügt. Da es sich um ausgesuchte Verdachtsfälle und nicht um Stichproben handelte, geht die Familienkasse jedoch nicht davon aus, dass durchgängig bei 40 Prozent der Fälle betrogen wird. Eine offizielle Statistik zum Missbrauch bei Familienleistungen gibt es nicht, wie die Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der AfD einräumen musste.

Romani Rose, der Vorsitzende des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, hält Sören Links Äußerungen für rassistisch

Die Familienkasse erklärte, dass Betrüger häufig neben dem Kindergeld auch andere Sozialleistungen missbrauchen würden. Sie wies jedoch ausdrücklich darauf hin, dass im Bereich der Kinder, die im Ausland Kindergeld beziehen, so gut wie kein Missbrauch stattfinde.

Roma, Ratten und Rassismus

Duisburgs Oberbürgermeister Link warnte vor kriminellen Schleppern, die gezielt Sinti und Roma nach Duisburg bringen würden, und sagte: “Ich muss mich hier mit Menschen beschäftigen, die ganze Straßenzüge vermüllen und das Rattenproblem verschärfen.” Dafür kritisierte ihn der Vorsitzende des Zentralrats der Sinti und Roma, Romani Rose: Link nutze rassistische Stereotype gezielt, um Sündenböcke zu produzieren. Auch der Deutsche Städtetag warnte vor Stimmungsmache, forderte gleichzeitig jedoch rasche Reformen beim Kindergeld für Kinder im Ausland.