Mein Europa: Hilfe, ich sitze im Autokorso!

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Kroatien steht im WM-Finale und alle drehen durch – auch unsere Autorin Jagoda Marinic. Wie konnte das passieren? Wie konnte es so weit kommen? Und vor allem – warum nicht?

Kroatien hat sich ins WM-Finale geschossen. Richtig, Finale. Und ich weiß nicht, was in mich gefahren ist: Aber zum ersten Mal in meinem Leben sitze ich in einem Auto und hupe mitten in einer Kolonne von Fußballverrückten mit Kroatien-Fahnen, die grölen bis sie heiser sind. Die Stadt ist auf uns gut vorbereitet, alles wird sortiert. Durchdrehen in geordneten Bahnen: Welcome to Germany! I love it so.

Kroatien steht im Finale. Ich schreie Fiiiinaaaaaleee aus dem Fenster als hätte ich mein Leben lang nichts anderes getan. Ein Junge an der Ampel kreischt zurück und springt mit einer Kroatien-Fahne, die sein großer Bruder sein könnte, im Quadrat. So geht das also, Leben auf den Straßen. Warum ist das nur zu WM-Zeiten so?

Rudelgucken mit Fremden

Dabei klang ich vor kurzem noch ganz anders: Was soll das nur? Diese korrupte Fifa! Ist doch alles blanker oder verkappter Nationalismus! Spieler, die in einem Jahr so viel Geld verdienen, wie die meisten ihrer Fans im ganzen Leben nicht! Und dieses Jahr auch noch Russland als Gastgeber – wer braucht das? Ich offensichtlich. Denn jetzt sitze ich im Autokorso durch Mannheim. Meistens staut es sich, die Polizei hat gut abgesperrt. Sie winkt aber freundlich. Ich winke zurück und beneide alle, die so klug waren, sich mit Musik zu versorgen und ihre Autos zu schmücken.

Fiiiinaaaaaleeee!!!!

Ich gucke WM-Spiele gerne außer Haus, mit so vielen Fremden wie möglich, so gemischt wie möglich. Dieses Jahr habe ich die meisten Spiele in Mannheim gesehen, eine der buntesten Städte Deutschlands – Arbeiterstadt mit international geprägter Alltagskultur. Beim Spiel gegen Russland frotzeln Russen und Kroaten, dabei sind alle auch Deutsche. Ein Pärchen mischt sich ein, machen auf Kenner. Sie hätten sich gerade in Kroatien ein Sommerhaus gekauft. Ich schimpfe lachend: Ausverkauf an Ausländer! Sie fiebern trotzdem mit mir für ihr zweites Land. Später, nachdem Kroatien gewonnen hat, wollen sie unbedingt auch eine Runde Schnaps. Es gibt nur deutschen Jägermeister, sag ich. Passt auch, sagen die.

Fußball mit Fremden zu gucken ist so kathartisch wie früher wohl nur der Karneval war. In der Halbzeit tauschen wir Ladegeräte und Power-Banks, um die Handys zu tanken. Auf allen Kanälen sendet man Nachrichten an Freunde und Verwandte in aller Welt. Kroatien hat die brutalsten Verlängerungen gespielt. Am Ende konnten aber immer auch die Verlierer erhobenen Hauptes vom Platz gehen. Nach dem Russlandspiel stand ich noch als Zaungast am Straßenrand: Autos aller Schichten, protzige Wagen, alte Kisten. Viele fuhren mit kroatischer, russischer und deutscher Fahne am Wagen. Geht doch, dachte ich. Schade, dass so vielen Deutschen entgeht, dass wir in Zeiten leben, in denen viele Sommermärchen möglich sind. 

Distanz? Was für eine Distanz?!?

Natürlich wollte ich anfangs über den Dingen stehen. Distanz ist ja ach so wichtig heutzutage. Gesellschaft ist kollektive Empörung, aber nicht mehr kollektives Feiern. Eines Nachts dann die Tweets des bekannten serbischen US-Ökonomen Branko Milanovic. Er meinte, die WM sei bei aller Korruptheit das letzte globale Großereignis. Ja, denke ich. Man kann daraus den Stoff für Smalltalk mit Nachbarn, Freunden und Fremden ziehen.

Der Smalltalk, auf den ich allerdings keine Lust habe, sind die Schuldzuweisungen innerhalb der deutschen Mannschaft. Ein Lothar Matthäus, der sich vor Putin verneigt: Kein Problem. Ein Mesut Özil, der keine Demokratietheorie beherrscht: Voll das Problem. Selbst das Niveau der Luftblasen-Fußballexperten ist höher als diese Leerlauf-Debatten. Dabei ist Deutschland nur das passiert, was drei Weltmeistern zuvor auch passiert ist: Wir sind in der Vorrunde ausgeschieden.

Überall beugen sich die Schlächter über diesen Sport. Die kroatische Präsidentin jubelt mit dem Team in der Kabine, sie erntet Lob und Kritik dafür, sexistische und bewundernde Kommentare. Ich könnte das jetzt alles auch analysieren, die ganze Verlogenheiten der Welt während eines Turniers. Und denke dann: Lass doch einmal gut sein. Genieß’ das einfach. Und teile den Genuss mit Millionen Menschen auf der Welt.

Was ist ein Abseits?

Der kroatische Teambus mit dem Superslogan fährt vor: Small Country, Big Dreams. Es war auch eine WM, in der kleine Länder wie Belgien und Kroatien sich ins Viertelfinale gekämpft haben. David gegen Goliath. Das ist die Ur-Geschichte, die jeder normale Mensch zum Überleben braucht. Kroatien, ein Land mit so vielen Einwohnern wie Berlin, steht nun im Finale der Weltmeisterschaft 2018. Viele Autorenkollegen und Journalisten fiebern mit, alle tweeten live von Spiel zu Spiel um die Wette. Morgens lese ich Analysen der Aufstellungen. Ich habe die Antwort auf die Frage parat, was ein Abseits ist, weil Männer immer noch meinen, das sei der ultimative Test für eine Frau als Fußballkommentatorin.

Nach dem Sieg wird ein Tweet über Modric tausendfach geteilt: Wie er als Junge im Krieg seinen Großvater verlor. Wie er als Flüchtling nach Zadar kam. Zu schüchtern war. Und wie er Luka Modric wurde, der die Seele des Teams ist, das es ins WM-Finale schaffte. Nach jedem Spiel beglückwünschen mich zig Fremde über Twitter, alte Studienfreunde aus der ganzen Welt, deren Nummern ich schon nicht mehr im Adressbuch hatte. Ich müsste das ironisieren: Was hab ich denn dafür getan? Doch ich sage: Thank you, you were great, too! Big hug!

Ich war immer für Underdogs. Die WM ist nicht nur das Turnier der Nationen. Es ist auch das Turnier der Träume: Weltruhm für kleine Länder. Kampfgeist vor Geld. In den internationalen Clubs gewinnen meist die Reichsten. Spieler sind käuflich. Diesmal gewinnt das Team eines Landes, das für solche Spiele nicht einmal Stadien hätte. Vom kroatischen Trainer hat kaum jemand zuvor gehört. Große Stars wie Messi und Ronaldo sind gefallen. Und plötzlich bin ich stolz. Dabei sage ich immer, für das Land, in das man geboren wird, kann keiner etwas. Ich höre jene kritischen Stimmen, denen ich sonst immer Recht gebe: Bühne für Nationalismus, Plattform für Rechte… Ich höre sie, aber ich höre nicht zu.

Genießt es, Jungs!

Man kann sich doch nicht alles Uneindeutige auf der Welt kaputt machen lassen. So lese ich nach den Spielen Interviews mit dem Trainer Zlatko Dalic. Er geht mit seinen Landsleuten ins Gericht, weil sie diesem Team so einen Siegeszug nicht zugetraut hatten. Er erinnert daran, was es heißt, zu kämpfen, an sich zu glauben und ja: Leistung. Es ist ein Fest der Leistungsgesellschaft.

Müsste ich nicht spätestens jetzt aussteigen und sagen: Ich bin für eine soziale, solidarische Welt? Stattdessen gehe ich zum Twitter-Account von Ivan Rakitic und himmle ihn an, weil er seine Tweets perfekt in drei Sprachen absondert. Und weil er seine Bruderschaft mit Modric feiert, während andere sie zu Konkurrenten stilisieren. Fraternité, denke ich, und fühle mich wieder ein bisschen intellektueller.

Kroatien flippt aus: Ein ganzes Land im Freudentaumel

Ja, Kroatien wird am Sonntag im Finale gegen Frankreich spielen. Sie werden schwitzen und heulen und sich so oder so in die Arme fallen. Und Zlatko Dalic, dessen Vorname “der Goldene” bedeutet, wird vorher wieder zu ihnen sagen: “Uživajte!” Genießt es, Jungs! Genießt Euer Spiel. Das mache ich auch. Vive la Irrationalité.

Jagoda Marinic ist eine deutsch-kroatische Schriftstellerin, Theaterautorin und Journalistin. Zuletzt erschien von ihr das Buch “Made in Germany – Was ist deutsch in Deutschland?”. Darin setzt sie sich mit der Identität Deutschlands als Einwanderungsland auseinander.