Kane und seine zwei englischen Teams

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Abgetaucht. Harry Kane ist gegen Tunesien zeitweise der Mann mit den wenigsten Ballkontakten auf dem Platz. Aber in der Nachspielzeit ist Englands Kapitän zur Stelle: Der Stürmerstar köpft sein Team zum Sieg.

Zwei Tore erzielte Harry Kane gegen Tunesien und wüsste man nicht, dass er Englands Trikot zwei Halbzeiten lang trug, man hätte meinen können, er habe in den 90 Minuten von Wolgograd für zwei unterschiedliche Teams gespielt. In der ersten Hälfte führt er ein junges spritziges Team, dass direkt nach dem Anpfiff loslegt wie die Feuerwehr. Tunesien gerät mehrmals in höchster Not und folgerichtig früh in Rückstand. Kane trifft. Nach einer Ecke verwandelt er einen Abpraller staubtrocken (11. Minute).

Bei der Euro 2016 gelang Kane in vier Spielen kein Tor

Auch danach erspielt sich das englische Team mit Tempo mehrere Hochkaräter. Aber nie kommt der Ball zu Kane, dem Vollstrecker, stattdessen scheitern Lingard und Maquire. Kane hätte womöglich genauer gezielt: 2017 traf er im Verein wettbewerbsübergreifend 56 Mal und ließ damit sogar Messi und Ronaldo hinter sich. Aber das zählt hier bei der WM alles nicht. Denn dann ist Pause. Die Statistik sagt: sechs gute Tormöglichkeiten, so viele in einer Halbzeit haben die Engländer bei einer WM seit 1966 nicht mehr geschafft. Das überlegene Team von der Insel führt aber nicht etwa, sondern es steht  unentschieden 1:1. Tunesien hatte einen umstrittenen Foulelfmeter zugesprochen bekommen, den Sassi verwandelte (35.).

Sehr unterschiedliche Halbzeiten

“Wir haben gut angefangen, die zweite Halbzeit war schwierig, da haben beide Teams miteinander gerungen”, sagte Kane im TV-Interview nach der Partie. Zu erwähnen wäre auch, dass die tunesischen Abwehrspieler in dieser zweiten Hälfte mit ihm ringen. Und zwar buchstäblich. Gleich zwei Szenen hätten einen Elfmeterpfiff absolut gerechtfertigt. Der kam aber nicht. Im Netz breitet sich da schon Spott aus.

In diesen zweiten 45 Minuten spielt Kane, so scheint es, in einer ganz anderen Mannschaft. Es fehlt an Tempo und Spielwitz. Das drittjüngste Team dieser WM bekommt vielleicht etwas Muffensausen gegen zähe und diszipliniert verteidigende Tunesier. Kane selbst, mit 24 Jahren der jüngste Three Lions-Kapitän aller Zeiten, verschwindet fast von der Bildfläche. Kaum Ballkontakte, unterdurchschnittliche Laufwerte, noch nicht einmal bei Standardsituationen kommt der 1,88 Meter Mann an das Leder. Es ist gespenstisch. Erst als die Tunesier schon das Spielende wittern, entwischt Kane doch noch einmal.

Kane auf den Spuren von Lineker 

Kane beim 2:1: Sein (mit Augenzwinkern) erklärtes Ziel: mit Portugals Torjäger Ronaldo gleichziehen

Ein gekonnter Kontakt per Kopf, und das Leder schlägt am kurzen Pfosten ein. Sein Siegtreffer zum 2:1 (1:1) ist gleich in mehrfacher Hinsicht denkwürdig. Es ist Englands erster WM-Sieg seit acht Jahren und der erste Doppelpack für einen Engländer seit Gary Linekers Treffern gegen Kamerun 1990.

“Gott sei Dank hat es einen guten Abschluss gefunden”, erklärte ein erleichterter Kane danach, “wir sind froh über den Dreier und haben bekommen, was wir verdient haben.” Mit seinen Toren erspart er seiner Elf viel Stress und lästige Zweifel. Zwar sind die Erwartungen auf der Insel merklich gedämpfter als bei vorigen Turnieren, aber so ganz ohne Ambitionen kann das Fußball-Mutterland dann doch auch nicht. Dank Kane ist in Gruppe G alles gut, Belgien führt nach dem 3:0 (0:0)-Erfolg über Panama. England liegt punktgleich auf Rang zwei.