Mit Anne-Frank interaktiv gegen Rassismus

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Mit einem herkömmlichen Museumsbesuch hat der Rundgang durchs neue Lernlabor in der Bildungsstätte Anne Frank nichts mehr zu tun. Hier können Jugendliche mit einem Tablet in die Welt des jüdischen Mädchens eintauchen.

Im Eingangsbereich der Ausstellung stoßen die Besucher auf das weltberühmte Tagebuch der Anne Frank. Darin beschreibt das jüdische Mädchen ihr Leben in einem Amsterdamer Hinterhaus, wo sie sich mit ihrer Familie vor den Nationalsozialisten versteckte. 

Das Buch ist natürlich nicht das Original, sondern eine Kopie. Und es ist das einzige klassische Ausstellungsobjekt in der Bildungsstätte Anne Frank. Wer mehr über Annes Leben in der Hinterhauswohnung der Prinsengracht 263 erfahren möchte, muss zum Tablet greifen, denn die neue Ausstellung präsentiert sich vor allem digital. Man sei eben “kein Museum, sondern ein Lernlabor”, sagt Direktor Meron Mendel.

Geschichte ohne Zeigefinger

Viele Jugendliche sind überrascht, dass Anne ihre Tagebucheintragungen auf Niederländisch verfasste

Es gibt niemanden, der Schulklassen und Jugendgruppen mit erhobenem Zeigefinger mahnend durch die Räume führt. “Im Gegenteil”, so Mendel. “Wir zeigen, dass es Spaß machen kann, sich selbst zu hinterfragen und irritieren zu lassen. Wir nehmen Jugendliche ernst. Unser Motto lautet: Deine Meinung zählt!”

Die bisherige Ausstellung “Ein Mädchen aus Deutschland” lockte seit 2003 rund 120.000 jugendliche Besucher nach Frankfurt, die Heimatstadt Anne Franks. Im jetzt eröffneten Lernlabor sollen es noch mehr werden. Computer, Videos, virtuelle Welten: Damit kennen sich Jugendliche aus. Die Idee dazu, Themen wie Antisemitismus, Rassismus und Diskriminierung, die auch heute zum Alltag vieler Jugendlicher gehören, derart zu verpacken, kam Mendel im Berliner Technikmuseum. Dort tobte sich sein eigener Sohn mit Feuereifer an den Mitmach-Stationen aus. Prompt setzte er das Konzept auch in der Bildungsstätte um.

Zu Gast bei Anne Frank

“Es ist eine Spielwiese, ein Experimentierfeld für Gegenwart und Vergangenheit”, so Meron. 14 Mitarbeiter leisten den Besuchern im Labor Hilfestellung und erklären die Technik – zum Beispiel, wie die Jugendlichen Anne Frank jetzt sozusagen per Knopfdruck im Hinterhaus besuchen können. Dort versteckte sich die Familie Frank vom 6. Juli 1942 bis zu ihrer Entdeckung und Verhaftung am 6. August 1944 zusammen mit weiteren jüdischen Bewohnern. Die Laborbesucher können alle Räume abgehen: Annes privates kleines Reich, wo ein Plüschbär auf dem Bett sitzt, oder den Gemeinschaftsraum, den die Familie Frank mit anderen Untergetauchten teilen musste. Auch mit Annes jugendlichem Leidensgenossen Peter, ihrer ersten – und einzigen – Liebe.
 

Per Knopfdruck kann man durch die Zimmer des Hinterhauses laufen

Die plastischen 360-Grad-Aufnahmen basieren auf Annes Notizen in ihrem Tagebuch. Ein sprechendes Buch, das man antippen kann, beschreibt die Mitbewohner Annes in dem Versteck. Zeitzeugen kommen zu Wort. “Anne Franks Geschichte fühlt sich ganz nah an, weil sie auch Frankfurterin war”, sagt die Neuntklässlerin Petra. “Das Thema Diskriminierung ist noch so aktuell wie damals. Das merkt man zum Beispiel in der U-Bahn, wenn sich Leute über andere aufregen.”

Diskriminierung im Alltag

Aus der Vergangenheit geleitet Anne Frank die Jugendlichen mit den Zeilen “Morgen mehr” in die Gegenwart. Denn mit diesen Worten endet ihr erster Tagebucheintrag. 

Ein lebendiges Buch im Lernlabor “Anne Frank, Morgen mehr”

“Morgen mehr” ist auch das Motto des Lernlabors: mehr Mut, um Hassreden entgegenzutreten, mehr Respekt vor anderen, mehr Widerstand, mehr Gerechtigkeit, mehr Selbstreflexion. Die Themen Migration, Flucht, Asyl und die Lebensrealitäten junger Menschen spielen eine große Rolle bei dem Rundgang. Der Blick soll geschult werden, um Formen der Diskriminierung im Alltag zu entlarven. Warum zum Beispiel sagt man “Zigeunersoße” statt Paprikasoße? Und steckt nicht auch im Wort “Schwarzarbeit” Rassismus? 

Ein Blick durch die “Rassistenbrille”

Besonderen Eindruck hinterlässt bei den Jugendlichen die ” Rassistenbrille”: Durch speziell präparierte Gläser lassen sich Zeichnungen von “ganz normalen” Menschen buchstäblich “von Vorurteilen verzerrt” betrachten: Aus dem Mädchen wird eine Klischeezigeunerin oder eine Hure, der Student mutiert zum Gangster oder zum böse dreinblickenden Rapper. “Ich finde, man sollte einen Menschen zuerst kennenlernen, bevor man sich eine Meinung über ihn bildet”, sagt Schülerin Lara. 

Entlarvt Vorurteile: der Blick durch die “Rassistenbrille”

Ein paar Schritte weiter fordert die Station “Hate speech” die Besucher auf, Hassreden, wie sie täglich im Internet verbreitet werden, zu erkennen und dagegen zu intervenieren.

Keine vorgefertigten Antworten

Allein gelassen mit ihren Eindrücken werden die Jugendlichen nach dem Rundgang nicht: Am Ende des Labors werde nochmal alles zusammengefasst und bei Bedarf diskutiert, so Kuratorin Deborah Krieg. “Die jugendlichen Besucher sollen zu Fragen animiert werden: Was sind meine eigenen Perspektiven? Was finde ich ungerecht? Was möchte ich verändern?”

Diskriminierung spielt auch im Alltag von vielen muslimischen Jugendlichen eine Rolle

Fertige Antworten will die Schau nicht liefern, stattdessen verlangt sie den jungen Besuchern eine Auseinandersetzung mit sich und ihrer Umgebung ab. Die ersten Besucher kamen zur Eröffnung am 12. Juni ins Lernlabor, Anne Franks 89. Geburtstag.

Unter ihnen war auch die 97-jährige Trude Simonsohn, Ehrenbürgerin der Stadt Frankfurt und KZ-Überlebende. Wenn heutige Jugendliche sie fragen, was sie tun könnten, um zu verhindern, dass jemals wieder so etwas wie unter den Nazis passiert, antwortet sie: “Zu jedem Unrecht sofort ‘Nein!’ sagen”. 

Am 16. und 17. Juni lädt das Lernlabor “Anne Frank. Morgen mehr” zum großen Publikumswochenende ein.


  • Wer war Anne Frank?

    Auf der Flucht vor den Nazis

    1933 flüchtet Anne Frank vor den Nationalsozialisten aus Deutschland in die Niederlande. Im Zweiten Weltkrieg muss sie untertauchen, um den Nazis zu entkommen. Sie lebt zwei Jahre lang versteckt in einem Hinterhaus in Amsterdam. Doch jemand hat sie verraten: Am 4. August 1944 wird ihre Familie entdeckt, verhaftet und nach Auschwitz deportiert.


  • Wer war Anne Frank?

    Familienbande

    Anne Frank (vorne links) hat eine dreieinhalb Jahre ältere Schwester Margot (hinten rechts). Ihr Vater Otto Frank hat dieses Foto am achten Geburstag von Margot im Februar 1934 gemacht. Da war die Familie bereits im Exil in den Niederlanden.


  • Wer war Anne Frank?

    Versteck in Amsterdam

    Otto Frank, Annes Vater, konnte in Amsterdam die Niederlassung der Firma Opekta übernehmen (Foto). Im Hinterhaus richtet der Familienvater dann das Versteck ein, als die Judenverfolgung einsetzte. Die vierköpfige Familie lebte dort von 1942 bis 1944 zusammen mit vier anderen Verfolgten. Dort schrieb Anne Frank ihr weltberühmtes Tagebuch. Seit 1960 ist das Anne Frank Haus ein Museum.


  • Wer war Anne Frank?

    Annes Versteck

    Im Anne Frank Haus in Amsterdam können Besucher heute den originalgetreuen Nachbau von Annes Versteck im Hinterhaus besichtigen. Monatelang musste das junge Mädchen ihr enges Zimmer mit dem jüdischen Zahnarzt Fritz Pfeffer teilen, den sie in ihrem Tagebuch “Albert Dussel” nannte. Rechts ihr Schreibtisch, an dem sie fast jeden Tag schrieb.


  • Wer war Anne Frank?

    Tagebuch als beste Freundin

    Von Anfang an schreibt Anne fast jeden Tag in ihr Tagebuch. Es wird für sie zu einer Art Freundin, der sie den Namen Kitty gibt. Das Leben, das Anne im Versteck führt, ist völlig anders als die sorglose Zeit davor: “Am besten gefällt mir noch, dass ich das, was ich denke und fühle, wenigstens aufschreiben kann, sonst würde ich komplett ersticken”, ist dort zu lesen.


  • Wer war Anne Frank?

    Tod in Bergen-Belsen

    Anne Frank und ihre Schwester Margot werden am 30. Oktober 1944 aus Auschwitz nach Bergen-Belsen gebracht. In diesem Konzentrationslager kommen insgesamt mehr als 70.000 Menschen ums Leben. Nach der Befreiung des KZs werden unter Aufsicht britischer Soldaten die Opfer von Lastwagen zu den Massengräbern gebracht. Hier starben auch Anne und Margot Frank – an Typhus. Anne war erst 15 Jahre alt.


  • Wer war Anne Frank?

    Annes Grabstein

    In Bergen-Belsen steht auch der Grabstein von Anne. Das jüdische Mädchen aus Frankfurt am Main hat sich ihr Leben anders vorgestellt: “Ich will nicht umsonst gelebt haben wie die meisten Menschen. Ich will den Menschen, die um mich herum leben und mich doch nicht kennen, Freude und Nutzen bringen. Ich will fortleben, auch nach meinem Tod” – so lautet ihr Tagebucheintrag vom 5. April 1944.


  • Wer war Anne Frank?

    Berühmt durch ein Tagebuch

    Ihr großer Traum war es, Journalistin oder Schriftstellerin zu werden. Dank ihres Vaters erscheint ihr Tagebuch am 25. Juni 1947. Der Titel: “Das Hinterhaus.” Es folgen viele weitere Auflagen und Übersetzungen. Anne Frank wird zur Symbolfigur für die Opfer der Nazi-Diktatur. “Wir alle leben mit dem Ziel, glücklich zu werden, wir leben alle verschieden und doch gleich.” (Anne Frank, 6. Juli 1944)

    Autorin/Autor: Iveta Ondruskova