Die WM – so nah und doch so fern

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Die Spannung vor der Fußball-WM in Russland ist weit über die elf Austragungsorte hinaus spürbar. Aber schon eine kurze Autofahrt von Moskau ist das große Turnier nur ein ferner Traum.

Trotz des Regens haben sich einige Dutzend Zuschauer zum Fußballspiel im Dorf Fedino versammelt. Der örtliche Verein spielt im Rahmen eines Distrikt-Turniers gegen eine andere Mannschaft aus der Region Moskau. Die Dorfbewohner sind mit Regenschirmen und Säckchen mit Sonnenblumenkernen bewaffnet, in Russland seit der Sowjetzeit ein beliebter Snack. Eine junge Mutter beobachtet das Spiel mit zusammen ihrem Sohn, den sie gerade aus dem Training abgeholt hat. Einige aus der kleinen Gruppe der Zuschauer schreien den Spielern Anweisungen zu, als das Spiel Fahrt aufnimmt.

Der Kapitän der Mannschaft von Fedino ist Vladimir Murashov. “Fußball ist unser Leben”, erklärt er in der Halbzeitpause. Vladimir wurde in Fedino geboren und spielt seit seiner Jugend für den Verein. “Ich bin jetzt 43, aber durch das Team fühle ich mich jung, weil dieses Team wie meine Familie ist. Es spielt keine Rolle, wie das Spiel endet. Ich spiele mit ihnen, weil es mich glücklich macht.”

Egal, wen man anspricht, alle sagen, dass sie sich auf die Weltmeisterschaft freuen. Ein kleiner Junge trägt stolz ein hellgrünes T-Shirt mit dem WM-Maskottchen “Zabivaka” darauf. “Wir freuen uns auf die Gäste”, sagt seine Mutter. “Russland hat auf jeden Fall etwas zu zeigen!”

Ein junger Mann mit Brille erklärt, dass er neugierig auf alle Nationalmannschaften sei – auch auf die russische. Mit einem Achselzucken fügt er hinzu: “Aber ich glaube nicht, dass die Weltmeisterschaft in unserer Region etwas ändern wird. Wir sind weit davon entfernt, wo das alles passiert.”

Bescheidener Stolz

Fedino liegt nur etwa 100 Kilometer von Moskau entfernt. Aber es fühlt sich an wie eine andere Welt. In Vorbereitung auf die Weltmeisterschaft hat sich die russische Hauptstadt sauber herausgeputzt. Die Straßen sind repariert, Gebäude, Zäune und U-Bahn-Stationen wurden neu gestrichen. Offizielle Stellen teilen mit, dass allein in Moskau über 150 Milliarden Rubel (zwei Milliarden Euro) in Infrastruktur-Projekte im Zusammenhang mit den Spielen gepumpt worden seien.

Vieles wirkt improvisiert auf dem Fußballplatz von Fedino, eine Autostunde von Moskau entfernt

Trotz der Leidenschaft für die Sportart ist die Fußball-Infrastruktur von Fedino noch lange nicht auf dem neuesten Stand. Das “Stadion” in dem Dorf mit etwas mehr als 2500 Einwohnern besteht aus einem großen Feld mit einer kleinen Aussichtsplattform. Der Rasen ist in gutem Zustand, die Umkleidekabinen mit ihrem Wellblechdach wirken dagegen behelfsmäßig. An den Säulen beginnt die Farbe, gemalt entsprechend der russischen Nationalflagge, abzublättern. Fedinos Kapitän Vladimir sagt, die Einheimischen seien trotzdem stolz auf die Sportplätze. “Alles, was Sie hier sehen, wird dank der Energie des Teams – und der Einheimischen – aufrechterhalten. Und natürlich hilft die lokale Verwaltung, im Rahmen ihrer Möglichkeiten, so viel sie kann.”

Es fehlt der Rasenmäher

Vor zwei Jahren wurde gegenüber dem Fußballplatz ein kleines Freiluft-Eishockeystadion errichtet. Schließlich sind Fedino und die Region um die nahe gelegene Stadt Voskresensk als Eishockeyregion bekannt – wegen der hohen Dichte an Stanley-Cup-Siegern aus der Region, wie die Einheimischen stolz erklären. Aber Vladimirs Herz schlägt für den Fußball. Er hofft, dass die Stadt am Ende wenigstens ein kleines Fußballstadion bekommt, besonders für den Winter. Sein zwölfjähriger Sohn spielt Fußball in der örtlichen Jungenmannschaft.

“Wir könnten hier sogar eine Turnhalle bauen”, fügt er hinzu und zeigt auf ein kleineres Feld neben dem Hauptplatz, wo sein Sohn noch vor wenigen Stunden trainiert hat. “Aber natürlich gibt es dafür im Moment kein Geld im Budget.” Er hält inne, bevor er seine Erwartungen herunterschraubt. “Du weißt, was wir wirklich brauchen, auch wenn es total banal ist. Wir brauchen einen motorisierten Rasenmäher.” Im Moment dauere das Mähen des Grases jeweils sechs Stunden.

Hoffnung auf WM-Schub

Die Einheimischen in Fedino hatten gehofft, dass sich die WM positiv auf die lokale Infrastruktur auswirken würde – vor allem, wenn es um Sport geht. Im Vorfeld der Fußball-Weltmeisterschaft wurde über den Bau eines neuen Stadions oder Trainingsplatzes im benachbarten Voskresenk gesprochen, um dort eine der Nationalmannschaften zu beherbergen. Vladimir sagt, dass Voskresensk dringend eine neue Turnhalle brauche, da es nur eine in der Stadt gebe – und die sei 1966 gebaut worden. Immerhin beherbergt Bronnitsy, eine weitere Stadt im Bezirk, das argentinische Team. In der Region Moskau gibt es 17 WM-Quartiere. “Wenn es einen Schub durch die Weltmeisterschaft gibt, dann kommt er nach dem Turnier”, erklärt Vladimir hoffnungsvoll.

Aus der Ferne

Während anderswo, wie hier in Wolgograd, Prunkstadien entstanden, geht es in der Provinz weiter spärlich zu

Das heutige Fußballspiel hier im Dorf ist umkämpft. Am Ende siegen die Gegner Fedinos, trotz der leidenschaftlichen Anfeuerungen und Flüche der Zuschauer. “Leider haben wir verloren”, sagt Vladimir nach dem Spiel. Er bedauert, dass die WM-Tickets für die meisten Einheimischen zu teuer seien. “Es wäre toll, wenigstens ein Spiel live zu verfolgen. Aber das wird wahrscheinlich nicht passieren. Wir werden alles im Fernsehen sehen. Unsere Frauen sind schon verärgert, weil sie wissen, dass wir einen ganzen Monat lang fernsehen werden!”

Die Betreiber der Fedino-Sportanlage planen, bei wichtigen WM-Spielen vor den Umkleideräumen Stühle und einen Projektor aufzustellen. Eine Frau weiß, was sie bei diesen öffentlichen Vorführungen vom Publikum zu erwarten hat: “Sie schreien so laut, dass man sie sogar von den Häusern aus hören kann. Die Frauen sind normalerweise zu Hause und wir können die Männer schreien hören. Und es macht uns auch glücklich.”