Klimaschutz: Atomkraft, ja bitte?

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Die Erderwärmung soll auf unter zwei Grad begrenzt werden. Atomkraft ist klimafreundlich, und so wirbt deren Lobby für den kräftigen Ausbau. Aber ist Atomkraft wirklich eine gute Option? Die DW hat nachgehakt.

“Wir sind froh, dass Atomenergie ein Teil der Lösung für den Energiemix und den Umweltschutz ist”, sagt José Ramón Torralbo, Atomkraftdirektor und Ex-Präsident des spanischen Nuklearverbandes im Video der Initiative Nuclear for Climate. Atomkraftverbände aus 38 Ländern haben sich im Jahr 2015 zu dieser zusammengeschlossen. Das Ziel der Kampagne ist es, Politik und Öffentlichkeit über die Notwendigkeit der Atomenergie als Lösung für den Klimawandel aufzuklären, heißt es auf der Webseite. Dieses Ziel wird auch von Vertretern der Lobbyorganisation auf den UN-Klimakonferenzen immer wieder betont.

Werbung für Atomkraft auf der Bonner Klimakonferenz

“Die Kernenergie wird eine wichtige Rolle spielen, um die UN-Nachhaltigkeitsziele und die Pariser Klimaziele zu erreichen”, sagt auch Michail Chudakow, stellvertretender Generaldirektor der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEA) in Wien, der von Nuclear for Climate zitiert wird. Um den Weg zu einer CO2-armen Wirtschaft zu gestalten, wirbt die IAEA dafür, Umweltschäden in den Preis der Energiegewinnung einzubeziehen. Ein CO2-Preis sei dafür ein gutes Instrument. Es sei auch hilfreich, um die Wettbewerbsfähigkeit von Atomenergie zu erhöhen.

Ausbau gefordert

In ihrer Projektion zur Erreichung des Pariser Zwei-Grad-Ziels skizziert die IAEA einen rasanten Ausbau der Atomkraft. Ende 2017 waren weltweit Atomanlagen mit einer Gesamtleistung von 353 Gigawatt (GW) in Betrieb, laut IAEA-Projektion sollten es 598 GW bis zum Jahr 2030 sein. Um dieses Ziel zu erreichen, müssten die inzwischen alt gewordenen Kraftwerke jetzt zunehmend ersetzt werden und zusätzlich noch rund 19 GW –  etwa 19 Atomkraftwerke –  jedes Jahr ans Netz gehen.

Die Umsetzung dieser Projektion würde für die Atomkraft eine Trendwende bedeuten: Im Vergleich zur Kapazität von vor zehn Jahren wuchs die Atomkraft weltweit bis heute nicht mehr und nahm sogar leicht ab. Zugleich wurde die Atomkraft in nur wenigen Jahren von der installierten Wind- und Solarkraft weltweit überholt.

China, das in den letzten Jahren wie kein anderes Land die Atomkraft vorangetrieben hat, zeigt, “wohin die Reise geht”, erklärt Mycle Schneider, Herausgeber des unabhängigen World Nuclear Industry Status Reports- nämlich hin zu den erneuerbaren Energien.

2017 gingen weltweit nur noch vier Atomkraftwerke neu ans Netz, drei davon in China und eines in Pakistan, das China gebaut hat. Die Gesamtleistung dieser Kraftwerke liegt bei 3,3 GW. Zugleich installierte China aber im eigenen Land in 2017 Solarstromanlagen mit einer Kapazität von 53 GW. “Selbst in China ist die Atomkraft inzwischen eine vernachlässigbare Größenordnung geworden”, so Schneider gegenüber der DW.

Atomstrom im Vergleich teurer

Klimafreundlich mag Atomkraft ja sein, aber lohnt sich eine Investition in diese Art der Stromversorgung wirklich?

Fakt ist, dass die Kosten für Atomstrom stark gestiegen sind. Gründe sind, dass neue Atomkraftwerke immer teurer werden und dass es beim Bau oft zu langen Verzögerungen kommt. Solar- und Windenergie sind im Vergleich viel billiger und lassen sich wesentlich schneller errichten. 

Strom aus dem geplanten Atomkraftwerk im englischen Hinkley Point will ein Konsortium ab 2025 für rund 12 Eurocent pro Kilowattstunde (kWh) ins Stromnetz verkaufen. Hinzu kommt ein Aufschlag für die Inflation. Solar- und Windstrom sind im Vergleich deutlich günstiger. Laut einer Studie des Fraunhofer Instituts für Solare Energiesysteme (ISE) kostet heute in Deutschland Strom aus neuen Windanlagen etwa 6,1 Eurocent pro kWh und aus neuen großen Solarkraftwerken im Durchschnitt 5,2 Eurocent. In sonnenreichen Ländern sind die Kosten für Solarstrom noch günstiger und liegen unter vier Eurocent.

Die Fraunhofer Wissenschaftler prognostizieren auch in Zukunft weiter sinkende Preise für Solar- und Windanlagen und somit einen zunehmenden Kostenvorteil gegenüber der Atomkraft.

Sehr teuer wird die Atomkraft allerdings wenn alle Kosten eingerechnet werden. Abgesehen von den noch unklaren Kosten für die Endlagerung von hochradioaktivem Müll über mehrere tausende Jahre, kommen die Kosten für die Behebung der Schäden durch große Atomunfälle wie in Tschernobyl und Fukushima hinzu.

Bislang müssen sich die Kraftwerksbetreiber gegen solch große Unfälle nicht versichern und haften deshalb kaum. Würden sie sich gegen große Atomunfälle absichern, so würde der Atomstrom laut Analyse des Forums Ökologisch-Soziale Marktwirtschaft um zusätzlich 11 bis 34 Eurocent pro kWh steigen. Selbst Strom aus alten Atomanlagen wäre somit nicht mehr rentabel.

Neue Speichertechnik kompensiert Defizit

Wind- und Solarstrom steht nicht immer ausreichend zur Verfügung und dies galt bislang als großes Defizit. Dieser Nachteil lässt sich inzwischen mit neuen Speichertechnologien wie Power-to-Gas lösen. Bei dieser Technik wird aus Solar- und Windstrom Wasserstoff oder synthetisches Erdgas erzeugt. Dies wird gespeichert und bei Bedarf kann in einem Gaskraftwerk wieder Strom gewonnen werden.

Das Berliner Analyseinstitut Energy Brainpool geht in einer Studie davon aus, dass die Stromkosten für eine sichere Stromerzeugung aus Wind- und Solarstrom in Kombination mit Power-to-Gas bei etwa 12 Eurocent pro kWh in etwa zehn Jahren liegen werden. Damit erreichen sie das Niveau von Atomstrom aus neuen Reaktoren. Der Vorteil solcher Kombikraftwerke gegenüber der Atomkraft liegt vor allem darin, dass der Gesellschaft so keine Risiken und damit verbundene Kosten durch Atomunfälle und die Endlagerung entstehen.

Atomkraft ja bitte: Werbestand mit strahlenden Gesichtern von Nuclear for Climate auf der Klimakonferenz in Bonn

Atomlobby: Keine Antwort und veraltete Zahlen

Die Deutsche Welle bat Nuclear for Climate und internationale Atomverbände um konkrete Zahlen und Einschätzungen. Ist Atomkraft nicht inzwischen viel teurer als die Erneuerbaren, vor allem wenn alle Kosten eingerechnet werden?

Der Pressevertreter von Nuclear for Climate beantwortete die konkreten Fragen nicht. Der Lobbyverband der deutschen Atomwirtschaft, das Deutsche Atomforum (DAtF), das zu den Unterstützern der Initiative Nuclear for Climate gehört, wollte kein Interview geben oder vermitteln. “Bei identischen Marktbedingungen ist die Stromerzeugung aus Kernenergie wirtschaftlich”, laute dafür die schriftliche Antwort nebulös. Zugleich sieht das DAtF einen weltweiten Zuwachs der Atomenergie und verweist diesbezüglich auf die Publikationen der IAEA.

Die IAEA will sich zu einem aktuellen Kostenvergleich zwischen Atomstrom und Erneuerbaren gegenüber der DW nicht äußern und verweist auf die Schätzungen der Nuclear Energy Agency (NEA) in Paris, eine halbautonome Institution innerhalb der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit (OECD).  

Die NEA publiziert allerdings veraltete Zahlen. In der aktuellesten NEA-Publikation von April 2018 kostet Solarstrom beispielsweise doppelt so viel wie in der Realität und in Studien führender Institute. Die DW fragte die NEA, warum sie veraltete Zahlen publiziere. Liegt hier vielleicht eine bewusste Irreführung vor? Eine Antwort erhielt die DW trotz Nachfragen nicht.

Die Angst vor einem Atomunfall wächst. Internationaler Protest in Belgien gegen den umstrittenen Atomreaktor Tihange

Wer trägt das Risiko bei alten Reaktoren?

Frankreich ist weltweit führend in punkto Atomkraft. Der französische Staatskonzern EDF will mit Unterstützung von Staatspräsident Emmanuel Macron die Laufzeiten der Reaktoren auf 50 bis 60 Jahre verlängern. Die inzwischen alten Reaktoren, so das Kalkül, seien rentabel im europäischen Strommarkt.

Gegen die Verlängerung von Laufzeiten formiert sich in Europa jedoch zunehmend Widerstand. Die Angst vor einem Atomunfall aus den inzwischen alten und störanfälliger gewordenen Reaktoren wächst.

In einer Allianz fordern 15 Regionen aus Deutschland, Österreich und Belgien einen europaweiten Atomausstieg und eine umfassende Haftung der Kraftwerksbetreiber im Falle eine großen Atomunfalls. Derzeit liegt die Deckungsvorsorge in den meisten EU-Ländern unter einer Milliarde Euro; die Kosten eines großen Atomunfalls wie in Fukushima liegen aber deutlich über 100 Milliarden Euro.

“Den Herausforderungen des Pariser Klimabkommens können wir nur durch mehr Effizienz und erneuerbare Energien begegnen”, sagt auch Luxemburgs Umweltministerin Carole Dieschbourg bei einem Treffen der europäischen Allianz Ende April. “Atomkraft ist keine Lösung, sondern eine teure und unflexible Risikotechnologie.”


  • Die Katastrophe von Tschernobyl. Was folgt?

    Tschernobyl nach der Explosion

    Durch einen Bedienfehler explodierte am 26. April 1986 ein Reaktor des Atomkraftwerks Tschernobyl in der damaligen Sowjetunion. Riesige Mengen radioaktiver Partikel wurden in die Erdatmosphäre katapultiert und kontaminierten mit dem folgenden Niederschlag viele Länder in Europa. Die Weltöffentlichkeit erfuhr von dem Unfall erst nach ein paar Tagen und vom gesamten Ausmaß erst viel später.


  • Die Katastrophe von Tschernobyl. Was folgt?

    Humanitäre Katastrophe

    4000 Menschen könnten nach Einschätzung der internationalen Atomenergie-Organisation und der WHO an den Folgen des Reaktorunglücks gestorben sein. Das Journal of Cancer geht von mindestens 15.000 Krebstoten aus. Diese Zwillinge kamen nach der Katastrophe zur Welt. Sie waren auf dem Foto 16 Jahre alt. Der Vater arbeitete als “Liquidator” im havarierten Kraftwerk. Die Mutter lebte in der Nähe.


  • Die Katastrophe von Tschernobyl. Was folgt?

    Geisterstadt

    Die Stadt Pripyat ist nur wenige Kilometer vom Atomkraftwerk Tschernobyl entfernt. Heute ist Pripyat unbewohnbar – eine Geisterstadt. Einst lebten hier 43.000 Menschen. Viele Männer arbeiteten in der Atomanlage. Einige Tage nach der Explosion wurden die Menschen sehr schnell evakuiert und mussten fast alles zurücklassen. Insgesamt mussten rund 350.000 Menschen ihre Heimat verlassen.


  • Die Katastrophe von Tschernobyl. Was folgt?

    Wildschweinfleisch noch heute belastet

    Die Ostgrenze von Deutschland liegt 1.100 Kilometer von Tschernobyl entfernt. Doch durch den radioaktiven Niederschlag wurden bestimmte Gebiete Deutschlands stark kontaminiert. Auch noch heute muss deshalb Wildschweinfleisch auf Cäsium 137 untersucht werden. Teilweise sind die Messwerte zu hoch und das Fleisch darf nicht verkauft werden.


  • Die Katastrophe von Tschernobyl. Was folgt?

    Neue Schutzhülle über den Reaktor

    Inzwischen wurde eine gigantische Stahlkuppe gebaut und über den Unglücksreaktor geschoben. 2,2 Milliarden Euro kostete der Bau bisher und wurde von 45 Ländern finanziert. Die Schutzhülle ist aber noch nicht dicht und die Fertigstellung dauert eventuell noch bis Ende 2018. Bis zu 200 Tonnen Uran und Plutonium könnten im zerstörten Reaktor liegen. Eine langfristige Bergung ist nicht absehbar.


  • Die Katastrophe von Tschernobyl. Was folgt?

    Photovoltaik statt Atomkraft?

    Neben dem zerstörten Reaktor steht eine neue Photovoltaikanlage. Doch Wind- und Sonnenkraft liefern in der Ukraine nur 1,5 Prozent des Stroms, 68 Prozent kommen aus den 15 alten Reaktoren. Zwar sollen die Erneuerbaren ausgebaut werden, doch die Ukraine setzt weiter auf Atomkraft und plant die Verlängerung der Laufzeiten. Solar- und Windkraft ist nach Meinung vieler Ukrainer teurer als Atomkraft.


  • Die Katastrophe von Tschernobyl. Was folgt?

    2011: Atomkatastrophe von Fukushima

    Eine Atomkatastrophe im High-Tech-Land Japan hielten viele für unmöglich. Nach einem Tsunami kommt es 2011 aber zur Kernschmelze in drei Reaktoren und zu Wasserstoffexplosionen. Tokio wurde beinahe stark verseucht, hatte aber noch Glück. Experten rechnen mit 22.000 bis 66.000 zusätzlichen Todesfällen durch Krebs. Die Kosten des Unglücks liegen laut Japans Regierung bei 177 Milliarden Euro.


  • Die Katastrophe von Tschernobyl. Was folgt?

    Angst vor einem neuen Atomunfall

    Inzwischen sind viele Atomreaktoren alt und werden zunehmend störanfällig. Laut einer Studie der Naturschutzorganisation BUND sind zudem deutsche Reaktoren nicht ausreichend gegen Hochwasser, Erdbeben und Terror geschützt. Deutschland will bis 2022 aus der Kernkraft aussteigen. In anderen europäischen Ländern wollen Kraftwerksbetreiber die Laufzeiten jedoch verlängern.


  • Die Katastrophe von Tschernobyl. Was folgt?

    Atomkraft im Vergleich zu teuer

    Strom aus Atomkraft galt lange Zeit als günstige Energie. Gegen einen großen Unfall sind die Kraftwerksbetreiber jedoch nicht versichert, solche Policen ließen die Stromkosten explodieren. Inzwischen ist aber auch die Produktion von Sonnen- und Windstrom günstiger als Atomstrom und bald auch inklusive Speicherung. Für viele war dies lange Zeit unvorstellbar.


  • Die Katastrophe von Tschernobyl. Was folgt?

    Atombombe braucht Atomkraft

    Die Stromproduktion mit neuen Atomkraftwerken ist nicht mehr wirtschaftlich. Trotzdem werden noch einige Reaktoren gebaut und geplant. Eine Motivation ist der Wunsch nach der Atombombe. Britische Wissenschaftler bezeichnen den Bau des Reaktors in Hinkley Point deshalb auch als eine Quersubventionierung des militärischen Atomprogramms auf Kosten der britischen Stromkunden.

    Autorin/Autor: Gero Rueter