Hommage auf die Rolling Stones: Jeremy Reeds “The Nice”

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Ein mitreißendes Buch über die 60er, Mode, Musik, über wild ausgelebte Sexualität, Drogen und andere Rauschzustände – passend zur Stones-Tournee erscheint Jeremy Reeds Roman auch auf Deutsch. Eine Entdeckung.

Unverschämt cool: Mick Jagger und Keith Richards Mitte der 1960er Jahre

Unterdessen verdichteten die Stones das, was sie am besten konnten, zu einem langsamen Blues: düster, verloren und ansprechend. Er hörte wie Jagger “Empty Heart” als einen ihrer eigenen Titel ankündigte, wie die weiblichen Fans bei seiner lässig hingerotzten Performance loskreischten und den überfüllten Raum noch dichter machten. Jagger gefiel ihm mit jeder Sekunde besser, vor allem wegen des aufregend affektierten Klangs in seiner Stimme, den er als Hinweis auf den Zusammenbruch der Genderidentitäten in diesen durchweg entmännlichten Zeiten erkannte.

So mitreißend und präzise hat bisher kaum jemand über die Rolling Stones geschrieben. Es sind die Stones aus den ersten Monaten des Jahres 1964, die Band erobert gerade die Clubs und Bühnen in ihrer englischen Heimat, bevor es dann aufging nach Europa und in die USA. Mick Jagger, Keith Richards und die anderen spielen in überfüllten Sälen, das Publikum ist außer sich. Eine so vor Kraft strotzende, wild aufspielende Combo hat das junge Publikum bisher noch nicht gesehen.

Mick Jagger 1968

Jagger, der die Bühne mit seiner unnachahmlichen Präsenz beherrscht, der wie ein Derwisch tanzt, schweißbedeckt, der androgyn wirkt und ein völlig neues Geschlechterbild zeigt, ist eine Wucht. Die anderen halten sich zurück, doch Keith Richards und Brian Jones, die anderen Eckpfeiler der Band, funkeln wie ungeschliffene Diamanten und deuten schon in diesen ersten Wochen, in denen die Band aufblüht, an, dass die Rolling Stones keine One-Hit-Group sind und auch keine One-Man-Show.

In Deutschland noch zu entdecken: der britische Autor Jeremy Reed

Eingewoben hat diese Passagen, die von frühen Stones-Auftritten erzählen, der britische Autor Jeremy Reed, in seinen Roman “Here Comes The Nice”. Das Buch ist bereits 2011 in Großbritannien erschienen und nun auch unter dem Titel “The Nice” auf Deutsch erhältlich. Reed wird gerade hierzulande entdeckt, das ist höchste Zeit.

Der kleine Züricher Bilgerverlag, der den Briten jetzt im deutschen Sprachraum bekannt machen will, hält Reed für einen wichtigen Autor: “Es ist nicht zu erklären, warum dieser Kultautor in Deutschland bisher nicht bekannt ist”, erklärt Ricco Bilger im Gespräch mit der Deutschen Welle. Reed könne auf ein riesiges Werk zurückblicken, es gebe so viele Anknüpfungspunkte für die Leser, zumal die Themen Rock und Pop. “Für mich als Verleger ist es so, als ob ich plötzlich einen Autor vom Range eines William S. Burroughs unter Vertrag habe.” 

Musik- und modebewusst: Jeremy Reed

Und es stimmt ja auch. Reed ist alles andere als ein literarischer Neuling. Geboren 1951, hat er seit 1972 bereits über 50 Bücher veröffentlicht: Romane und Erzählungen, Essays, Kritiken. Und übersetzt wurde er auch schon in viele Sprachen, nur ins Deutsche eben nicht.

Ricco Bilger begann damit im vergangenen Jahr mit dem Reeds Roman “Beach Café”, jetzt folgt “The Nice” und das Buch müsste eigentlich einschlagen. Hierzulande wird man Reed wohl als Pop-Literat einordnen – und so wirbt der Verlag auch mit dem Slogan: “Zu seinen größten Fans zählen J. G. Ballard, Pete Doherty, Björk, Edmund White oder Lawrence Ferlinghetti.”

Aber zurück zum Buch und zu den Rolling Stones:

Als die Stones, umringt von Security-Leuten, zur Bühne bugsiert wurden, brüllten die Zuschauer los, als würde der ganze Park plötzlich in ein Vakuum gesogen. Winzige, langhaarige Gestalten, die am Ende des Jahrzehnts stecken geblieben waren und nach wie vor versuchten, die Zeit zu verändern, indem sie ihre Bad-Boy-Musik und eine Haltung wieder aufwärmten, die sie zu Beginn der Sixties erfunden hatte. Face erkannte an Keith Richards’ Gesicht, wie erledigt er war; er sah aus, als wäre er völlig woanders.

Die Stones im Jahre 1964, ganz brav im Studio, auf der Bühne war es immer wilder

Nach knapp 300 Seiten trifft der Leser auf diese Passage im Roman. “The Face”, einer der Protagonisten in Reeds Roman, erlebt die Stones zum wiederholten Mal live auf der Bühne, ist immer noch begeistert, spürt aber bereits jetzt, wie verbraucht die Band schon ist, wie nah am Abgrund. Die Stones sind inzwischen eine der populärsten Bands des Kontinents. Das Jahrzehnt neigt sich dem Ende, die Musikgeschichte ist in Siebenmeilenstiefeln vorangeschritten.

“The Nice” ist auch ein Roman über die pulsierende Modemetropole London

“The Face” ist ein junger Mann und eine schillernde Modeikone, ebenso wie er ein Fan der Musik jener Jahre ist. Das macht überhaupt den Roman “The Nice” aus: Er erzählt gleich mehrere Geschichten parallel. Da ist zum einen der Blick auf die Jahre 1964/65 mit den Bands, die damals groß raus kamen, neben den Stones auch “The Who” und “Small Faces”.

Face huldigt neben Mick Jagger noch einem zweiten Idol, dem englischen Modemacher John Stephen, später mit seinen eleganten Entwürfen auch als “The King of Carnaby Street” berühmt geworden. Und so ist “The Nice” vor allem ein Roman über das London die Swinging Sixties, man riecht es, man sieht es vor sich wiederauferstehen und man hört es natürlich.

Verzauberte in den 60er Jahren die Londoner Pop-Welt: Modeikone John Stephen

Eine zweite Erzählebene führt den Leser in das London von heute, dort ist es der Journalist Paul, den uns Reed vorstellt. Paul recherchiert in Sachen Mode, will ein Porträt über den Designer John Stephen schreiben. Das heutige London zeigt uns Jeremy Reed als eine von Terror und Anschlägen heimgesuchte Stadt: Schwer traumatisierte britische Kriegsheimkehrer aus dem Irak ziehen durch die Stadt und hinterlassen eine Wüste der Zerstörung.

Mittendrin sehnt sich Paul in die 60er Jahre zurück, als Mode und Popmusik die Jugend noch in Atem hielten. Wie er der Zeit von damals bei seinen Recherchen näher kommt als man vermuten würde, ist eine der Überraschungen des Romans, die hier nicht verraten werden soll. “Möglicherweise ist es jetzt der richtige Zeitpunkt, den Roman in Deutschland zu veröffentlichen, ist die Mischung aus Fiction mit dystopisch-fantastischen Elementen derzeit doch populär”, sagt Verleger Ricco Bilger und hofft, dass auch die deutschsprachigen Leser Jeremy Reed nun lesen und lieben lernen. 

Musikalisches Phänomen über Jahrzehnte: die Rolling Stones

“The Nice” ist ein mitreißendes Buch über Mode und Musik, über wild ausgelebte Sexualität zu beiderlei Geschlechtern, ein Roman auch über Drogen und andere Rauschzustände, ein Text über die 60er Jahre ebenso wie eine Philosophie über das Phänomen Pop.

Mit am zwingendsten fallen die Passagen aus, in denen sich Reed den Auftritten der Rolling Stones widmet. Dass diese Methusalem-Band, jetzt, sage und schreibe 56 Jahre nach ihren ersten Auftritten in England, erneut zu einer großen Europa-Tournee aufbricht, grenzt an ein Wunder. Schon Ende der 60er sahen Keith Richards und Co. aus, als hätten sie ihre große Zeit hinter sich. Doch der äußere Eindruck täuschte. Warum das so ist, auch das kann man in Reeds wahrhaft originellem Roman nachlesen.

Jeremy Reed: The Nice, Roman, aus dem Englischen von Pociao, Bilgerverlag 2018, 352 Seiten, ISBN 978-3-03762-071-7. Der zweite Teil der “No Filter”-Tournee der Rolling Stones durch Europa beginnt am 17. Mai in Dublin und führt die Band auch zu zwei Auftritten nach Deutschland: Am 22.6. gastieren die Stones in Berlin, am 30.6. in Stuttgart. Die Tournee endet am 8. Juli in Warschau.