Wissenschaft geht auch am Stammtisch

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Vor einem Jahr gingen beim Berliner “March for Science” über 11.000 Menschen auf die Straße. Dieses Jahr gab es statt Demonstrationen Wissenschaft in Kneipen und Cafés. Die Berliner nannten das “Kieznerds”. Passt, oder?

Ich bin neu in Berlin. Von einem Kiez zum anderen zu kommen ist für mich schon eine Herausforderung. Aber mit dem Navi meines Handys kein Problem. Diese Dienstleistung verdanke ich der Wissenschaft.

Der Nutzen – unübersehbar. Doch in anderen Forschungsbereichen ist er oft weniger erkennbar. Und genau dafür dachten sich die Kieznerds spannende und witzige Aktionen aus. Witzig, kuschelig, kontrovers. keine “March for Science”-Riesendemo wie im letzten Jahr.

Pubquiz in der Szenebar

Die Ideen der Kieznerds kamen gut an, trotz geringer Teilnahme, was schade ist. Ungläubige Blicke und schallendes Gelächter gab’s beim “Pub Quiz with fun facts and myths about animals” in Friedrichshain, organisiert von drei Forscherinnen des Leibniz-Instituts für Zoo- und Wildtierforschung.

Es wird schlagartig still als das Quiz beginnt. Zu leiser Chillout-Clubmusik rätseln wir: Bekommen Fledermäuse ihren Nachwuchs über Kopf? Wie viele Bakterien leben im menschlichen Körper? Und welches Lebewesen hat die größten Eier?

Was wir heute Abend über Bärtierchen, Katzenkotkaffee und die Hyänenklitoris lernen ist faszinierend und verwirrend zugleich – Erkenntnisse, die ohne neugierige Forschende niemand kennen würde. Und wir wissen alle, wie gut sich tierische Fun Facts für Smalltalk eignen.

Technikfolgen-Abschätzung beim Italiener

Mein nächstes Ziel ist ein Italiener in Wittenau. Thema: “Karin und das Potenzial neuer Technologien”. Klingt erstmal nichtssagend, doch mal schauen. Neben mir sind weitere zehn Personen gekommen. Wir stellen uns mit Namen vor, schütteln Hände und sind gespannt, was unsere Wissenschaftlerin vom Büro für Technikfolgen-Abschätzung zu erzählen hat.

Normalerweise erforscht Karin auf Anfrage des Bundestages, wie neue Technologien unsere Gesellschaft verändern werden und ob sie für alle Menschen einen Nutzen bringen. Heute ist sie hier, um auf unsere Sorgen und Hoffnungen einzugehen. Mir gefällt die Energie, die sich in der Diskussion um den Einsatz von Künstlicher Intelligenz in der Medizin entwickelt. Allerdings wird Karin schnell vom hereinkommenden Kellner unterbrochen. Erst die Getränke, dann das Essen. 

Ich beschließe: Ein Restaurant ist keine gute Umgebung für wissenschaftliche Diskussionen. “Was nutzen bessere Vorhersagen in der Medizin”, will ein Gast wissen, “wenn am Ende die kranke Person trotzdem stirbt?” Eine gute Frage, doch am Ende ist es so wie bei allen angeschnittenen Themen: Wirkliche Antworten bekommen wir nicht. Dafür Pizza.

Türsteher und Remmidemmi

Weiter geht’s nach Neukölln. Am späten Abend diskutieren in einer Kneipe noch mehr als ein Dutzend Menschen über “Türsteher und Remmidemmi”. Vier Jahre lang beobachtete Christine, eine Berliner Soziologin, diese “Protagonisten der Nacht” und das Nachtleben allgemein für ihre Doktorarbeit. So eine Forschung gab es in Deutschland bisher noch nicht. Während ich mich noch über das seltsame Forschungsobjekt wundere, stellen andere um mich herum schon hemmungslos Fragen über Rassismus an der Eingangstür, Drogenkonsum im Club, Gangzugehörigkeit, und Polizeikontrollen. Einige stehen jetzt auf und holen sich das nächste Bier – doch keiner denkt daran aufzubrechen. Zu groß ist der Wissensdurst.

Einfach mal mit Forschenden reden

Auch wenn die diesjährige Kieznerds-Aktion in Berlin weder medial noch bei den Menschen große Wellen geschlagen hat, habe ich den Tag sehr genossen. Die Weiter- und Überführung des March for Science-Phänomens in “richtige” Gesprächsrunden ist den Forschenden gelungen. Und das, finde ich, bringt den Menschen und der Forschung mehr als kreative Plakate auf Demos hochhalten. Obwohl das natürlich auch lustig ist.