Zwischen Existenzialismus und Kriminalfilm: Jean-Pierre Melville

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Im vergangenen Jahr wäre der französische Regisseur 100 Jahre alt geworden. Sein filmisches Werk liegt nun vollständig vor. Jean-Pierre Melville gilt es als Bindeglied zwischen Hollywood und der Nouvelle Vague.

“Kino der Nacht” hat der französische Filmkritiker Rui Nogueira sein Interviewbuch betitelt, in dem er 1970 den französischen Regisseur Melville detailliert zu seinen Filmen befragt hat. Jean Pierre Melville (1917 – 1973) war einer der einflussreichsten Filmkünstler aus dem Mutterland des Kinos. Viele seiner oft düster-melancholischen Werke gehören heute zum Kanon des Kinos. Es waren oft Filme, die tatsächlich nachts spielten, in denen die dunkle Tageszeit aber noch aus ganz anderen Gründen eine Hauptrolle spielte.

Melvilles Frühwerk kann wiederentdeckt werden

Zehn von nur 13 Filmen, die der früh verstorbene Melville bis zu seinem Tod 1973 realisieren konnte, sind jetzt aus Anlass des gerade zurückliegenden 100. Geburtstages auf DVD erschienen, eine grandiose Film-Edition, ausgestattet mit einem sehr informativen Booklet. Meisterwerke wie “Der Teufel mit der weißen Weste” oder “Armee im Schatten” sind enthalten, die berühmten Filme aus Melvilles zweiter Karrierehälfte, meist kühl-melancholische Gangsterdramen.

Bemerkenswert ist die Edition vor allem wegen Melvilles ersten fünf Filmen, die er zwischen 1947 und 1985 realisierte. Diese Werke sind zwar nicht unbekannt, lohnen das Wiedersehen aber unbedingt, weil sie eben nicht – wie die berühmten Spätwerke – immer wieder im Fernsehen ausgestrahlt werden oder in Programmkinos zu sehen sind.

1947: Le silence de la mer/Das Schweigen des Meeres

Melville hatte während des Zweiten Weltkrieges in der Résistance gegen die Deutschen gekämpft. Für sein Debüt suchte er sich den französischen Roman “Das Schweigen des Meeres” des Schriftstellers Vercors aus – ein Roman, der als “Bibel der Resistance” verehrt wurde. Den Stoff konnte er nur gegen erhebliche Widerstände realisieren, denn der junge Melville hatte nur ein Mini-Budget zu Verfügung, kaum taugliches Filmmaterial und zunächst auch nicht die Unterstützung des Autors.

Stumme Begegnung im Schnee: Das Schweigen des Meeres

So drehte er den Film mehr oder wenig heimlich mit minimalem Aufwand in 27 Drehtagen ab – und unter der Bedingung des Autors Vercor, dass der Film zunächst in einer Privatvorführung ein paar Freunden vorgeführt werden sollte. Nur wenn diese Privatjury ihren Daumen heben würde, solle der Film anschließend öffentlich gezeigt werden. Andernfalls hätte Melville sein Vercors gegenüber abgegebenes Versprechen einlösen müssen, sämtliche Filmrollen zu vernichten. Dazu kam es glücklicherweise nicht.

Der Schauplatz von “Das Schweigen des Meeres” ist radikal reduziert auf ein Zimmer, in dem ein älterer Herr mit seiner Nichte wohnt und in dem sich ein deutscher Besatzungs-Offizier einmietet. Jeden Abend betritt der Deutsche das Wohnzimmer und versucht Kontakt zu Onkel und Nichte aufzunehmen. Doch die beiden schweigen beharrlich. Der Philosoph Jean-Paul Sartre hatte sein Heimatland während der deutschen Besatzung einst als “Republik des Schweigens” bezeichnet.   

Der Deutsche wird von Melville nicht als Bestie vorgeführt, sondern, ganz im Gegenteil, als kultivierter, belesener Kenner der französischen Kultur – wiewohl Melville keinen Zweifel daran ließ, wer hier Besatzer und wer Opfer ist. Gerade in dieser Vielschichtigkeit der Personenkonstellation liegt heute noch die Stärke des Films – vor allem aber in seiner radikalen filmischen Stilistik: “Ich wollte eine Sprache ausprobieren, die ausschließlich aus Bildern und Tönen bestand, aus der die Bewegung und die Handlung praktisch verbannt waren”, so Melville.

1949: Les enfants terribles/Die schrecklichen Kinder

Zwei Jahre später drehte Melville wieder einen Film, der fast nur in Innenräumen spielt. Auch dies ein schönes Beispiel dafür, wie dieser Regisseur ausgesprochen filmisch zu erzählen wusste, wenn nur wenige Schauplätze zu Verfügung standen. Hier ist es die Geschichte zweier Geschwister, die eine inzestuöse Beziehung pflegen und sich von der Außenwelt abkapseln. Lediglich einige wenige Freunde haben Zugang zu den beiden. Der Film entstand nach dem Roman von Jean Cocteau. Der berühmte Dichter hatte sich, nachdem er “Das Schweigen des Meeres” gesehen hatte, gewünscht, dass der junge Melville den Roman für die Leinwand adaptieren sollte.

Fatale Geschwisterliebe: Die schrecklichen Kinder

Auch heute noch geht von “Die schrecklichen Kinder” eine geheimnisvoll-verträumte Aura aus, der Film ist melancholisch und fatalistisch zugleich. Die Beziehung der Protagonisten untereinander lässt sich psychologisch kaum nachvollziehen. Melville arbeitete seine Themen (Homosexualität, Doppelgängertum, Geschwisterliebe) konsequent auf, in dem er bestimmte Charaktere von ein und demselben Darsteller spielen ließ: ein poetisches Filmmärchen, verschlüsselt und rätselhaft.

1953: Quand tu liras cette lettre/Und keine blieb verschont

Dieser Film war die einzige kommerzielle Auftragsarbeit in Melvilles Karriere. Er drehte ihn, weil er Geld brauchte – und auch, weil er ein Vorurteil zu wiederlegen versuchte. Ein Produzent hatte ihm nach seinem zweiten Film geraten: “Monsieur Melville, Sie sind sicher kein Filmregisseur, denn ein Filmregisseur darf nicht intelligent sein.” Melville daraufhin: “Deshalb war es nötig, dass ich als nächstes einen sehr, sehr braven, sehr, sehr konventionellen Film machte, einen ganz normalen Film, nicht einen, der aus dem Rahmen fiel.”

Drama und Emotion: Und keiner blieb verschont

“Und keine blieb verschont” ist sicher ein konventionelles Melodrama klassischer Schule, hat aber durchaus seine Reize. Die Kolportagegeschichte vor prächtiger Côte d’Azur-Kulisse (der Film spielt in Cannes) zeigt einige Motive, die im späteren Werk dieses Regisseurs noch eine Rolle spielen sollten: insbesondere die Zeichnung der männlichen Charaktere, allesamt Suchende, Einsame, Außenseiter.

1955 Bob le flambeur/Drei Uhr Nachts

Eines der frühen Meisterwerke des Regisseurs. Melville heftet sich hier an die Fersen eines alternden Gentleman-Gangsters und Spielers. Sein Protagonist Bob durchstreift nachts die Spielclubs von Paris, spielt Karten, gewinnt immer mal wieder, verliert aber auch immense Summen. In der Szene kennt man Bob, respektiert ihn als Spieler, der schon lange im Milieu verkehrt. Eines Tages bekommt Bob einen Tipp für den ganz großen Coup: Das Casino von Deauville soll ausgeraubt werden. 

Nächtliche Spiele: Drei Uhr Nachts

“Bob le flambeur” ist kein reiner Kriminalfilm, sondern gleicht eher einer melancholische Studie über Einsamkeit, auch einer Art Sittenkomödie, wie es Melville im Interview mit Noruiga ausdrückte: “Hier kommt meine Vorliebe fürs Absurde zum Vorschein … ich mag nutzlose Anstrengungen sehr.” Der Film “Bob le flambeur” nahm vieles vorweg, was Melville später zur Vollendung brachte: klassische, sehr coole Gangstergeschichten mit einem tollen Darstellerensemble und einem großartigen Soundtrack.

1958: Deux hommes dans Manhattan/Zwei Männer in Manhattan 

So wie “Drei Uhr Nachts” ein Film über Paris, seine Nachtclubs und Casinos war, so ist “Zwei Männer in Manhattan” ein Film über New York, seine Straßenschluchten und Wolkenkratzer. Kein anderer Film verdeutlicht Melvilles Liebe zum amerikanischen Kino so wie “Zwei Männer in Manhattan”.

Auch wenn Melville der Meinung war, mit der Tonfilm-Ära sei es den USA gelungen, “auch jene Länder mit ihren Fangarmen zu umschlingen, die in ihrer Sprache oder Denkweise nicht angelsächsisch waren” und er darauf hinwies, dass “der amerikanische Imperialismus entgegen der landläufigen Meinung nicht nur ein industrieller, sondern auch ein kultureller Imperialismus”sei – Melville gab sich mit Hingabe zumindest dem cineastischen Teil dieses kulturimperialistischen Amerikas hin.

Journalistische Spurensuche: Zwei Männer in Manhattan

Zudem ist “Zwei Männer in Manhattan” ein noch heute brandaktueller Film über den Journalismus. Den Fall, den Melville hier schildert, hat nichts von seiner Aktualität eingebüßt: Zwei Männer, ein Reporter und ein Fotograf sind auf der Suche nach einem vermissten Diplomaten und recherchieren dabei vornehmlich im Rotlichtmilieu. Sie treffen Call-Girls, Tänzerinnen und Schauspielerinnen, all die leichten Damen, mit denen der Vermisste zuletzt gesehen wurde. Melvilles Film stellt dabei Fragen nach dem Ethos des Journalismus, nach Skrupel und Wahrheit, Gier und Verzicht.

Die Box mit den zehn Filmen von Jean-Pierre Melville ist beim Anbieter Arthaus/Studiocanal erschienen.