„Einer trage des anderen Last“

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Keinem zur Last fallen? Dr. Christine Hober von der katholischen Kirche fragt nach der Lebensperspektive, wenn jemand niemandem zur Last fallen möchte, und endet in der Beziehungslosigkeit.

Wer keinem zur Last fallen will, nimmt sich raus aus den Beziehungen des Lebens und nimmt anderen die Möglichkeit an Leben und an Tiefe zu gewinnen.

„Ich will niemandem zur Last fallen“ – diese  Äußerung höre ich immer öfter, wenn es um Pflegebedürftigkeit und Krankheiten wie Demenz oder Alzheimer geht. Die letzte Konsequenz daraus ist inzwischen gesellschaftsfähig und an prominenten Vorbildern mangelt es auch nicht. Als sich vor einigen Jahren Gunter Sachs das Leben nahm, weil er glaubte, an Alzheimer erkrankt zu sein, löste er damit nicht nur heftige Diskussionen aus – sein Freitod stieß auf ebenso viel Zustimmung.

Muss das Leben zwangsläufig zu einer nicht tragbaren Last werden, wenn ein Familienmitglied an Demenz erkrankt ist? Oder ist es unserem Credo eines selbstbestimmten Lebens geschuldet, das wir niemandem zur Last werden wollen? Wenn unser Leben nur noch innerhalb der Koordinaten von Selbstverwirklichung und Individualismus eine Berechtigung hat, beschneiden wir uns und unsere Mitmenschen dann nicht um andere Möglichkeiten gelingenden Lebens?

Das soziale Netz der Sternenbergs

Denn es gibt diese Möglichkeiten. So wie bei Ehepaar Sternenberg, die einige Jahre nach ihrer Pensionierung in unsere Nachbarschaft gezogen sind. Über unsere Hunde kamen wir  ins Gespräch und bald wusste ich alles über das Leben des älteren Paares. Eine beginnende Demenz bei Herrn Sternenberg hat sich nach einem Sturz erheblich verschlimmert. Er wird von heute auf morgen zum Pflegefall. Ein Pflegeheim kommt für seine Frau nicht in Frage, sie möchte ihrem Mann einen weitgehend normalen Alltag zu Hause ermöglichen. Die 80-Jährige mobilisiert all ihre Kontakte, bis sie einen Stab von Pflegerinnen und Hilfen organisiert hat, die sie abwechselnd bei der Pflege ihres Mannes und im Haushalt unterstützen.

Ihr Verhältnis zu den Pflegekräften lebt von gegenseitiger Wertschätzung und von Vertrauen – wie selbstverständlich nehmen sie an ihren Sorgen und Nöten teil. Das gleiche gilt umgekehrt: Stets hat die alte Dame ein Ohr für die privaten Probleme ihres „Personals“, das so viel mehr ist als nur Personal. Dass Frau Sternenberg sich dadurch auch persönliche Freiräume geschaffen hat wie zum Beispiel ohne Eile einzukaufen, in Ruhe zum Friseur zu gehen oder Freunde in der Stadt zu treffen, macht für sie den anstrengenden Alltag mit ihrem kranken Mann erträglicher.

Dabei ist Frau Sternenberg selber nicht mehr so mobil – deshalb nehme ich ihren Münsterländer mit auf meine täglichen Spaziergänge mit meiner Hündin. Auf diese Weise bin auch ich zu einem Teil  des sozialen Netzes der Sternenbergs geworden. Ein Netz, das trägt, weil wir alle ein stückweit unser Leben miteinander teilen, miteinander reden, auch lachen und einander unsere Sorgen und Nöte anvertrauen – unsere Lasten gegenseitig mittragen.

Keinem zur Last fallen?

„Einer trage des anderen Last; so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen“, schreibt Paulus im Brief an die Galater (Gal 6,2). Knapper lässt sich kaum ausdrücken, worum es dem christlichen Glauben geht. „Einer trage des anderen Last“ ist die praktische Formulierung von: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und deiner ganzen Seele, mit deiner ganzen Kraft und deinem ganzen Denken, und deinen Nächsten wie dich selbst“ (Lk 10,27). Diese Liebe zeigt sich ganz praktisch in meiner Bereitschaft, Lasten tragen zu helfen. Meine Bereitschaft, für den Nächsten da zu sein und ihm zu helfen, wenn er mich braucht. Der Satz „Einer trage des anderen Last“ ist nicht weniger als eine ethische Anweisung, die uns darauf aufmerksam macht, dass wir uns um unseren Nächsten kümmern sollen.

„Ich will keinem zur Last fallen“ –  ist das nicht auch egoistisch? Vergisst nicht, wer so denkt, dass wirkliches Leben immer nur in Beziehung stattfindet, auch und gerade vielleicht dann, wenn Leben besonders zerbrechlich und gefährdet scheint? Wenn ich keinem zur Last fallen möchte, heißt das in letzter Konsequenz, dass ich nicht mehr in Beziehungen leben möchte und mir und anderen die Möglichkeit nehme, an Leben und an Tiefe zu gewinnen. Denn nur, wer sich an seinen Nächsten verliert, der gewinnt den Sinn des Lebens und der gewinnt Gott. Frau Sternenberg geht diesen Weg, auch wenn er mühsam ist.

Christine Hober, Dr. der Theologie, arbeitet als Lektorin und Autorin. Sie lebt in Bonn, ist verheiratet und hat zwei Kinder.