Kommentar: Per Mertesacker – der weiche Riese

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Ein Fußball-Weltmeister spricht darüber, dass ihm vor Spielen übel wurde und er stets mit Durchfall aufs Klo musste. Die Reaktionen zeigen, wie dringend Per Mertesacker darüber reden musste, meint Marko Langer.

Hier geht es nicht um Fußball. Jedenfalls nicht nur. Das hier geht raus an alle Jungs, die glauben, dass sie sich keine Blöße geben dürfen. Es geht raus an alle Trainer und Lehrer, die mit Kids zu tun haben. Vielleicht auch an Heidi Klum. Es geht raus an alle Bildungspolitiker und Ausbilder in den Betrieben. Und auch an Lothar Matthäus. Doch dazu gleich mehr.

Was ist passiert? Der Profi-Sportler Per Mertesacker, 33 Jahre alt, Fußball-Weltmeister und Mannschaftskapitän von Arsenal London, hat dem “Spiegel” Dinge erzählt, die man normalerweise für sich behält. Er hat über Druck gesprochen und Erwartungen. Darüber, wie der Brechreiz sich vor dem Spiel in ihm zusammenbraue. “Als sei das, was dann kommt, symbolisch gesprochen, einfach nur zum Kotzen.” Und er hat darüber gesprochen, dass er inzwischen angesichts von Schmerzen und Verletzungen mit seinem ausgelaugten Körper nicht mehr gerne spiele. “Am liebsten sitze ich auf der Bank, noch lieber auf der Tribüne.”

“Big fucking german”

Mertesacker ist ein Baum. 1,99 Meter groß. Wer ihn in den Spielen von Arsenal London in der Verteidigung sieht und beobachtet, wie er den gegnerischen Angreifern mit seinen langen Beinen die Bälle wegpflückt, kann den Eindruck gewinnen, Gulliver habe sich in die britische Premier League verirrt. Die Fans rufen ihn liebevoll BFG – “Big fucking german”, auch angelehnt an Roald Dahls Kinderbuch-Held “Big friendly giant”. Mertesacker, Rückennummer 4, ist übrigens Mannschaftskapitän. Auf der Brust trägt er das Wappen von Arsenal mit der Kanone.

Ein Mannsbild spricht darüber, was der Sport mit ihm gemacht hat. Wie sich seine Knochen verformt haben und wie sich “keine Sau” dafür interessiert habe, “ob Du zehn gute Spiele abgeliefert hast. Es zählt immer nur das aktuelle Spiel”. Und jetzt, nach mehr als 500 Spielen, kann er nicht mehr. Im Mai hört Mertesacker auf.

DW-Redakteur Marko Langer

“Wat woll’n Se?”

Ein Einzelschicksal? Von wegen. Nicht nur im Fußball, sondern in allen Sportarten kann man mit Athleten und Betreuern darüber sprechen, was es bedeutet, dem Druck standhalten zu müssen. Oder dass ein Versagen einem den Boden unter den Füßen wegziehen kann. Wer es nicht so weit schafft wie Mertesacker, der ist existenziell gefährdet. Auch das interessiert in der Regel keine Sau.

“Wat woll’n Se?” Das hat Mertesacker nach einem mühsam gewonnenen Länderspiel einmal einem kritischen Reporter entgegengeschleudert. Nachdem “Der Spiegel” (der in der gleichen Ausgabe an den Torwart Robert Enke erinnert, der sich mit Depressionen das Leben nahm) nun mit der Mertesacker-Story auf dem Markt war, kamen wieder die altbekannten Reflexe. Im Bundesliga-Sender Sky wurden die Experten gefragt und redeten so, wie man unter Jungs redet. Christoph Metzelder, immerhin Mannschaftskamerad von Mertesacker, gab zu Protokoll, er habe die Spielsituation ganz anders empfunden. Inzwischen hat er seine Aussagen relativiert und darauf hingewiesen, er habe das Interview nicht in Gänze gekannt. Rainer Calmund erklärte, er verstehe nicht, warum Mertesacker nicht längst aufgehört habe.

Das geht nicht?

Und dann sprach Lothar Matthäus: “Nationalmannschaft spielt man ja freiwillig. Er hätte ja aufhören können, wenn der Druck so groß war.” Und zum künftigen Job von Mertesacker in der Nachwuchsabteilung von Arsenal London erklärte Matthäus: “Wie will er nach diesen Aussagen weiter im Profifußball tätig sein? Er hat doch die Idee, im Nachwuchs zu arbeiten. Wie will er einem jungen Spieler diese Professionalität vermitteln, wenn er sagt, dass da zu viel Druck ist. Das geht nicht!”

Doch, das geht. Man sehe sich auf dem Youtube-Kanal von Arsenal London oder auf der Homepage der Per-Mertesacker-Stiftung für benachteiligte Kinder an, wie dieser Mann mit Kids umgeht. Ich wünschte mir, er würde nach diesem “Spiegel”-Gespräch eingeladen – vom DFB und von Bayern München, vom DOSB oder vom Bundestag, vielleicht auch von Sky oder von Arbeitgeberverbänden. Von allen Institutionen, die dem Nachwuchs mitunter das Gefühl mitgeben: Ist doch nicht so schlimm! Stell’ Dich nicht so an!

In vielen Schulen verweigern sich Jungs inzwischen dem Leistungsdruck. Lehrer können ein Klagelied darüber anstimmen, dass Schüler lernschwach und den Anforderungen nicht gewachsen seien, während die Mädchen funktionierten. Fragt man diese Lehrer nach Lösungen, müssen sie oft weit ausholen.

“Du schaffst es eh nicht”

Die persönlichste Passage im Mertesacker-Porträt hat mit dem Trainer des TSV Pattensen zu tun, wo der Schlacks mit vier Jahren zum ersten Mal auf dem Platz stand. Als der junge Per dann 15 war und ihm wegen Wachstumsstörungen die Knochen derart schmerzten, dass er ein Jahr lang nicht trainieren konnte, schleuderte ihm der Trainer entgegen: “Du schaffst es eh nicht.”

Der Satz habe ihn auf gewisse Weise befreit. Und der damalige Trainer hat inzwischen angekündigt, dass Mertesacker im Oktober ein Abschiedsspiel in seiner niedersächsischen Heimat bestreiten werde. “Legenden des TSV Pattensen” gegen “Pers Weggefährten”.

Man wünscht sich, Matthäus, der vier Kinder hat, würde mitspielen. Die Jungs von Mertesacker sind sechs und drei Jahre alt. Und der damalige Trainer in Pattensen heißt übrigens Stefan Mertesacker. Ein Vater, der stolz sein kann!

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