Gekommen, um zu bleiben: Angela Merkel ist wieder Kanzlerin

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Sie hat es wieder geschafft, allerdings auf Umwegen. Am Ende muss sich die deutsche Regierungschefin bei ihrer Wiederwahl mit einem mageren Ergebnis begnügen. Marcel Fürstenau berichtet aus dem Deutschen Bundestag.

Um 8 Uhr 55 erscheint Angela Merkel am Mittwoch im Plenar-Saal des Deutschen Bundestages. Die zu diesem Zeitpunkt noch geschäftsführende Bundeskanzlerin fällt schon deshalb auf, weil sie einen strahlend weißen Blazer trägt. Ansonsten dominieren gedeckte Farben: Schwarz, Anthrazit, Blau. Die Christdemokratin wird vom Sozialdemokraten Heiko Maas begleitet. Der bisherige Justizminister leitet in Merkels neuem Kabinett das Auswärtige Amt.

Die beiden unterhalten sich angeregt unter den Augen eines Premieren-Gastes bei einer Merkel-Wahl: Joachim Sauer, Ehemann der Bundeskanzlerin, sitzt schon seit einigen Minuten auf der Ehren-Tribüne. Rechts von ihm hat Merkels Mutter Herlind Kasner Platz genommen, auf der linken Seite die frühere Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland, Charlotte Knobloch. Aber das besondere Interesse der Presse-Fotografen und Kamera-Leute gilt Sauer, weil er bei der mutmaßlich letzten Wahl seiner Frau zur deutschen Regierungschefin das erste Mal persönlich dabei ist.

Merkels Ehemann Joachim Sauer (2.v.r.), ihre Mutter Herlin Kasner (2.v.l.) und Charlotte Knobloch (r.)

Formal ist es eine ganz normale Sitzung des Bundestages

Pünktlich um 9 Uhr ertönt im Plenarsaal der dumpf klingende Gong, mit dem jede Sitzung des Bundestages eingeläutet wird. Parlamentspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) begrüßt die Anwesenden, gratuliert einem Abgeordneten zu seinem Geburtstag und nennt den ersten Tagesordnungspunkt: Die Wahl der Bundeskanzlerin, vorgeschlagen von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier – so ist die Prozedur in Deutschland.

Um 9 Uhr 05 beginnt ein neben Schäuble sitzender Sprecher damit, in alphabetischer Reihenfolge die Namen der 709 Abgeordneten aufzurufen. Sie sind es, die in der nächsten halben Stunde Merkel wählen – oder auch nicht. Die Aufgerufenen machen sich auf den kurzen Weg in die Wahlkabinen, die sich oberhalb der lilafarbenen Sitzreihen befinden. Hinter einem hellgrauen Vorhang machen sie ihre Kreuze: Zur Auswahl stehen Ja, Nein oder Enthaltung.    

Nach einer halben Stunde sind alle Stimmzettel abgegeben

Um 9 Uhr 19 lässt die Abgeordnete Dr. Angela Merkel ihren gefalteten Zettel in die viereckige, gläserne Wahlurne fallen. Wieder so ein Motiv, auf das es die Bild-Journalisten, aber auch Besucher auf den Tribünen mit ihren Smartphones abgesehen haben. Offenbar haben viele das Gefühl, Augenzeuge eines historischen Moments zu sein. Und das ist es ja auch: Zum vierten und wohl letzten Mal wird Merkel zur deutschen Regierungschefin gewählt.

Kanzlerin Merkel (2.v.r.) mit Verteidigungsministerin von der Leyen (CDU) sowie den Grünen-Politikerinnen Göring-Eckard und Roth (v.l.n.r.)

Um 9 Uhr 33 erkundigt sich Hausherr Schäuble, “ob alle ihre Stimme abgegeben haben?”. Zur Sicherheit fragt er ein zweites Mal und stellt dann fest: “Das ist offensichtlich der Fall.” Anschließend unterbricht der dem Bundestag seit 1972 angehörende Parlamentspräsident die Sitzung für eine halbe Stunde, damit die Stimmen ausgezählt werden können. Das geht dann aber schneller über die Bühne, schon 19 Minuten später bittet Schäuble die “lieben Kolleginnen und Kollegen”, wieder Platz zu nehmen.

Die große Koalition hat 399 Stimmen, Merkel bekommt nur 364

Um 9 Uhr 53 verkündet Schäuble das Ergebnis: 364 Stimmen für Merkel, 315 gegen sie. Neun Abgeordnete enthielten sich, vier Stimmzettel waren ungültig. Merkels großer Koalition aus CDU, CSU und SPD gehören 399 von 709 Abgeordneten an. Nicht gewählt haben 17 Parlamentarier. Die sogenannte Kanzler-Mehrheit liegt bei 355 Stimmen. Merkel hat sie bekommen, allerdings vergleichsweise knapp angesichts der Mehrheitsverhältnisse im Bundestag. Rein rechnerisch sind mindestens 35 Abgeordnete des Regierungslagers Merkel nicht gefolgt.

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Angela Merkels politischer Weg

Wer ihr warum die Stimme verweigert hat, darüber wird auf der Presse- und Zuschauer-Tribüne sogleich spekuliert. Dass die Neuauflage der großen Koalition vor allem in der SPD auch viele Gegner hat, ist bekannt. Schließlich votierten in einer Mitglieder-Befragung nur zwei Drittel für dieses Bündnis. Und Bedenken gegen das dritte Regierungsbündnis mit den Konservativen seit 2005 haben auch viele Abgeordnete.

Schäuble wünscht alles Gute und “Gottes Segen”

Merkel selbst nimmt das für sie magere Ergebnis äußerlich gelassen zur Kenntnis. Sie tauscht ein paar Worte aus mit dem neben ihr sitzenden Vorsitzenden der CDU/CSU-Fraktion, Volker Kauder. Dann nimmt sie Blumen und den Applaus des Hohen Hauses entgegen, wie der Bundestag auch genannt wird. Schließlich will Schäuble wissen, ob Merkel die Wahl annehme? “Ja, Herr Präsident, ich nehme die Wahl an.”

Bundespräsident Steinmeier (r.) überreicht der frisch gewählten Bundeskanzlerin in Schloss Bellevue die Ernennungsurkunde

Der Tagesordnungspunkt 1 endet mit vielen guten Wünschen von Abgeordneten aller sieben Fraktionen. Und bevor Schäuble die Sitzung bis 12 Uhr unterbricht, wünscht er der nach 2005, 2009 und 2013 zum vierten Mal gewählten Bundeskanzlerin Erfolg und “Gottes Segen” für die “große Aufgabe”. Merkel macht sich sodann auf den Weg ins Schloss Bellevue, dem Amtssitz des Bundespräsidenten. Dort überreicht Staatsoberhaupt Steinmeier der im Amt bestätigten Regierungschefin ihre Ernennungsurkunde.

Erst die Ernennungsurkunde, dann der Amtseid

Keine zwei Stunden später ist Merkel zurück im Reichstagsgebäude, dem Sitz des Deutschen Bundestags. Der Parlamentspräsident ruft den zweiten Tagesordnungspunkt auf: “Eidesleistung der Bundeskanzlerin”. So steht es auf den Bildschirmen links und rechts unterhalb des silbergrauen Bundesadlers, der mit vier Drahtseilen an der Decke befestigt ist.

“So wahr mir Gott helfe” – Bundeskanzlerin Angela Merkel will und kann sich nicht nur auf irdische Kräfte verlassen

Exakt um 12 Uhr 02 legt Merkel ihren in Artikel 64 des Grundgesetzes formulierten Amtseid ab: “Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des Volkes widmen, Recht und Gesetze des Bundes wahren, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde.” Die Bundeskanzlerin fügt hinzu: “So wahr mir Gott helfe.” Diese Glaubensbekundung ist freiwillig.

Der AfD-Abgeordnete Bystron bricht das Wahl-Geheimnis

Ein zweites Mal wünscht Schäuble seiner wiedergewählten CDU-Parteifreundin viel Erfolg bei der Bewältigung ihrer “schweren Aufgabe”. Bevor der Parlamentspräsident die Sitzung erneut unterbricht, rügt er das Verhalten des Abgeordneten Petr Bystron von der rechtspopulistischen Alternative für Deutschland (AfD). Er habe in der Wahl-Kabine seinen Stimmzettel samt Wahl-Ausweis fotografiert und veröffentlicht, berichtet Schäuble. Wegen dieser “schwerwiegenden Verletzung der Ordnung und Würde des Bundestages” verhängt er unter dem Beifall der großen Mehrheit eine Ordnungsstrafe in Höhe von 1000 Euro.

Der via Twitter erfolgte Verstoß Bystrons gegen den Grundsatz der Geheimhaltung ist unschöner Schlusspunkt der Wahl Merkels zur Bundeskanzlerin. Und noch ein anderer Zwischenfall wird in Erinnerung bleiben: Das Transparent mit der Aufschrift “Merkel muss weg”, das ein Besucher auf der Zuschauer-Tribüne in die Höhe hält. Die Stör-Manöver illustrieren, wie sehr sich die Stimmung in Deutschland seit Merkels erster Wahl 2005 verändert hat.