Kaum ein Entkommen aus der Armutsfalle

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Für Geringverdiener, die Sozialleistungen beziehen, lohnt es sich in Deutschland nicht, mehr zu arbeiten. Ein absurdes System sei das, kritisiert das IFO-Institut. Aus Berlin berichtet Sabine Kinkartz.

Weltweit ist der 20. Februar UN-Tag der sozialen Gerechtigkeit. Der Aktionstag wurde 2009 von den Vereinten Nationen ins Leben gerufen. Die UNO will damit an das ethische Prinzip erinnern, dass Menschen eine existenzsichernde Teilhabe an den materiellen und geistigen Gütern der Gemeinschaft haben sollen. In Deutschland ist der Staat laut Artikel 20 des Grundgesetzes zur Umsetzung dieses Ziels verpflichtet, da die Bundesrepublik ein Sozialstaat ist.

In der Umsetzung hapert es allerdings. So kritisiert die OECD schon seit langem eine starke soziale Benachteiligung im deutschen Bildungssystem, eine hohe Kinderarmut und eine unzureichende Förderung von Langzeitarbeitslosen. Das IFO-Institut für Wirtschaftsforschung unterstützt diese Kritik nicht nur, sondern erweitert sie. Für einkommensschwache Familien, so heißt es in einer aktuellen Studie, gebe es keinen Anreiz, etwas hinzuzuverdienen. In bestimmten Fällen würden sie dadurch ein finanzielles Minus machen.

Mehr Brutto gleich weniger Netto

“Wir haben in Deutschland ein völlig absurdes System”, sagt Andreas Peichl, der sich am IFO-Institut mit Verteilungsfragen beschäftigt. Wer wenig verdiene, staatliche Zuschüsse aus der Grundsicherung, Kinderzuschlag und Wohngeld beziehe, dessen Nettoeinkommen verringere sich mit jedem hinzuverdienten Euro, weil die Sozialleistungen entsprechend abgeschmolzen würden. Allerdings nicht gleitend, sondern radikal. Ein Dazuverdienst von 100 Euro kann dazu führen, dass die Grundsicherung um 80-100 Prozent, der Kinderzuschlag um 50 Prozent und das Wohngeld ebenfalls zu einem bestimmten Prozentsatz gekürzt wird. In bestimmten Situationen summieren sich die Kürzungen auf bis zu 250 Prozent.

Ein Euro rein, mehr als ein Euro raus

Für ein alleinerziehendes Elternteil mit zwei Kindern ist das bei einem monatlichen Bruttoeinkommen zwischen rund 1.700 Euro und 2.350 Euro gegeben. Jeder zusätzlich verdiente Euro lässt das Nettoeinkommen sinken. “Wer mehr arbeitet oder eine Gehaltserhöhung bekommt, hat am Ende weniger in der Tasche”, so Peichl.

Es trifft vor allem Eltern und Kinder

Der Wissenschaftler rechnet vor, dass ein alleinerziehendes Elternteil mit zwei Kindern, das 1.700 Euro Brutto verdient und aufgrund des geringen Einkommens Sozialleistungen bezieht, im Ergebnis genauso viel im Geldbeutel hat, wie ein Elternteil, das 2.750 Euro Brutto verdient. In diesem Fall werden keine Transferleistungen mehr gezahlt, stattdessen werden Steuern und Sozialabgaben abgezogen. Im Ergebnis hat der Haushalt in beiden Fällen 2.185 Euro zur Verfügung. Auch zusammenlebende Eltern mit Kindern sind in dieser Situation, allerdings sind die Zahlen dann etwas anders.

Es trifft vor allem Alleinerziehende

Geringverdiener hätten von einem zusätzlichen Einkommen weitaus weniger als gut verdienende Arbeitnehmer, selbst wenn diese den Spitzensteuersatz zahlen. “Überstunden werden in den hohen Gehaltsklassen generiert, weil es sich dort lohnt, aber auf der unteren Gehaltsskala könnten die Leute viel mehr arbeiten”, analysiert Peichl. Aus dieser Berechnung ergibt sich für ihn die klare Forderung, das Steuer-, Abgaben- und Transfersystem in Deutschland zu reformieren. “Es wird nicht als integriertes System betrachtet, sondern es gibt einzelne Elemente, die von unterschiedlichen Ministerien gesteuert werden.”

Gut gedacht aber schlecht koordiniert

So sind jenseits der Besteuerung, für die das Finanzministerium zuständig ist, für Grundsicherung, Kinderzuschlag und Wohngeld drei weitere Ministerien verantwortlich. “Die sind nicht aufeinander abgestimmt”, kritisiert Peichl. Das Arbeits- das Familien und das Bauministerium müssten sich zusammensetzen und ein in sich schlüssiges System erarbeiten. “Eine solche Reform, kombiniert mit einer Reduktion und Glättung der Transferentzugsraten durch die Beseitigung bestehender Sprungstellen, wäre effizient und gerecht”, heißt es in der Studie des IFO-Instituts.

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Familienarmut in Deutschland

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Familienarmut in Deutschland

Eine Forderung, die allerdings nicht neu ist. Seit Jahrzehnten weisen Wissenschaftler darauf hin, dass es in Deutschland schwer ist, aus der Armutsfalle zu entkommen. Auch vor der Umsetzung der Agenda 2010, als noch Sozialhilfe gezahlt wurde, wurde es nicht honoriert, wenn jemand sich etwas dazu verdienen wollte. Dass das möglich ist, zeigen beispielsweise Dänemark und Großbritannien. Auch in zahlreichen anderen Ländern gebe es durch “working tax credits”, also negativen Einkommensteuerzahlungen für Geringverdiener, teilweise integrierte Steuer- und Transfersysteme.

Armut wird vererbt

Vor allem gering Qualifizierte kommen so teilweise ihr ganzes Leben lang nicht aus der Armutsfalle heraus. “Das hat verheerende Konsequenzen über den gesamten Lebenszyklus”, konstatiert Forscher Peichl und nennt nicht nur Altersarmut, sondern auch die Wahrscheinlichkeit, dass die Kinder das gleiche Schicksal erleben. “Der Schulerfolg von Kindern in Deutschland hängt stärker als in anderen Länder von den Eltern ab, von deren Einkommen und deren Bildung”, so Andreas Peichl “Für ein Kind aus einer Akademikerfamilie ist die Wahrscheinlichkeit, ein Gymnasium zu besuchen, deutlich höher als für ein Kind aus einer Arbeiterfamilie, bei gleichen Schulleistungen.”

Deutschland gebe vergleichsweise wenig Geld aus für Bildung im Kleinkindalter und viel Geld für die Hochschulbildung. Deshalb appelliert Peichl: “Wir brauchen mehr Investitionen in die frühkindliche Bildung und damit meine ich tatsächliche Förderung und nicht nur Aufsicht und Betreuung.”