Studie: Chancengleichheit und Gerechtigkeit in der EU

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Eine Untersuchung der Bertelsmann-Stiftung sieht Fortschritte in Sachen soziale Gerechtigkeit in den EU-Mitgliedsstaaten. Aber es gibt deutliche Unterschiede von Land zu Land – und einige Überraschungen.

Es ist Zufall, dass die Bertelsmann-Stiftung ausgerechnet im Jahr 2008 zum ersten Mal die soziale Gerechtigkeit in Europa untersucht und verglichen hat. Das war das Jahr, als die Finanz- und Staatsschuldenkrise begann. Entsprechend verschlechterten sich in den Folgejahren fast überall Wirtschaftsleistung, Verschuldung und Arbeitsmarkt – Faktoren, die sich direkt oder indirekt auf die soziale Gerechtigkeit in einem Land auswirken. Die wird definiert “als Chancengerechtigkeit, dass jeder entsprechend seinen Fähigkeiten bestmöglich an der Gesellschaft teilnehmen kann – unabhängig von seinem sozialen Hintergrund”, sagt der Sozialexperte der Bertelsmann-Stiftung, Daniel Schraad-Tischler.

Fast zehn Jahre später – der Index bezieht sich auf das Jahr 2016 – sehen die Macher der Studie endlich Lichtblicke. Die EU hat die Talsohle der Krise durchschritten, wirtschaftlich geht es spürbar aufwärts.

Beispiel Arbeitslosigkeit in Europa: Von einem Durchschnittswert von elf Prozent auf dem Höhepunkt der Wirtschaftskrise im Jahr 2013 ist sie bis 2016 auf 8,7 Prozent gesunken. Das hat weitere positive Effekte. “Dadurch, dass die Chancen am Arbeitsmarkt besser geworden sind, hat sich die Einkommenssituation zum Teil verbessert und dadurch nimmt wiederum der Anteil der von Armut bedrohten Menschen ab”, so Schraad-Tischler. Trotzdem: Immer noch fast 120 Millionen Menschen sind von Armut bedroht, das ist fast jeder vierte EU-Europäer..

Natürlich sagt ein Durchschnittswert noch wenig über die Situation in einzelnen Ländern aus. “Die Erholung in Sachen sozialer Gerechtigkeit verläuft in zwei Geschwindigkeiten”, schreiben die Forscher. Die Unterschiede bleiben gewaltig.

Beispiel Jugendarbeitslosigkeit: In Griechenland, dem von der Finanzkrise am stärksten gebeutelte Land, ist trotz Verbesserungen immer noch fast jeder zweite Jugendliche ohne Beschäftigung (2013 waren es fast 60 Prozent); in Deutschland dagegen sind es nur gut sieben Prozent, mit Abstand der beste Wert innerhalb der EU.

Alter Hafen, Kopenhagen: Dänemark ist europäischer Spitzenreiter in Sachen soziale Gerechtigkeit

Es kommt nicht nur auf das Geld an

Das scheint auf den ersten Blick die Grundregel zu bestätigen, wonach ein Land sich umso mehr Gerechtigkeit leisten könne, je reicher es sei. Aber so einfach ist es nicht. Der Index vergleicht die sechs Kriterien Armutsvermeidung, Arbeitsmarkt, Bildung, Gesundheit, Nichtdiskriminierung und Generationengerechtigkeit. Und beim genaueren Hinsehen zeigt sich: Ein Land kann relativ reich und gleichzeitig sozial ungerecht oder umgekehrt arm und doch sozial gerecht sein.

Es stimmt zwar: Die nordischen EU-Länder Dänemark, Schweden und Finnland schneiden – wenig überraschend – am besten ab, Bulgarien, Rumänien und Griechenland am schlechtesten. Insgesamt ergibt sich also ein starkes Nord-Süd-Gefälle, allerdings mit teils erheblichen Abweichungen. So kommen gleich an vierter und fünfter Stelle des Index Tschechien und Slowenien, die eine viel geringere Wirtschaftsleistung pro Kopf aufzuweisen haben als die Skandinavier. Und das relativ arme Estland schneidet besser als das wohlhabende Italien, das auf dem Index den viertletzten Platz belegt. Auch ist das Schlusslicht Griechenland beileibe nicht das ärmste Land der EU. Außerdem war Griechenland schon 2008 ganz am Ende der Skala, die Krise allein erklärt also nicht alles.

Es kommt in der Frage sozialer Gerechtigkeit nämlich nicht nur darauf an, dass ein Land mit Geld generell Wohltaten verteilen kann, sondern wie es mit seinen Mitteln Gerechtigkeit für möglichst viele Menschen schafft.

Deutsche Stärken, deutsche Schwächen

Sogar innerhalb eines Landes können die einzelnen Kriterien für Gerechtigkeit stark voneinander abweichen. Das beste Beispiel ist Deutschland. Wirtschaft und Arbeitsmarkt laufen bekanntlich bestens. Trotzdem steht Deutschland insgesamt nur auf Platz sieben, unter anderem weil mehr als 40 Prozent aller Arbeitslosen Landzeitarbeitslose sind – Menschen also, die das reiche Deutschland einfach nicht in den Arbeitsmarkt integriert bekommt, und denen deshalb der soziale Ausschluss droht. Auch wirkt sich in Deutschland die soziale Herkunft immer noch sehr stark auf die Erfolgschancen eines Menschen aus. Dieser Gerechtigkeitsfaktor hat sich zwar im Laufe der Jahre verbessert, trotzdem liegt Deutschland in diesem Punkt nur auf Platz 17, bemängelt die Studie. Und trotz wirtschaftlicher Spitzenwerte waren 2016 mehr Menschen in Deutschland von Armut bedroht als im Krisenjahr 2010. 

Ungerechtigkeit sehen die Autoren in Deutschland gerade zwischen den Generationen. Eine hohe Staatsverschuldung und große Unterschiede in der Altersversorgung von Jungen und Alten deuten darauf hin, dass Lasten einseitig auf die Jüngeren abgewälzt würden. “Langfristig orientierte Politikansätze, die sowohl die sozialen Sicherungssysteme zukunftsfest machen als auch die Beschäftigungsfähigkeit der Risikogruppen verbessern, sind derzeit kaum in Sicht”, bemängelt Daniel Schraad-Tischler.

Eines der größten Probleme nach wie vor ist die Jugendarbeitslosigkeit, vor allem im Süden Europas

Studie fordert “politische Führung”

Ein interessanter Nebenaspekt der Untersuchung sind Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen national-autoritären Regierungen und sozialer Gerechtigkeit. Besonders beim Thema Bildung haben sich die beiden nationalkonservativ regierten Länder Ungarn und Polen gegenüber früheren Untersuchungen verschlechtert. Allerdings – und das scheint diesen Zusammenhang wieder zu relativieren: Insgesamt gesehen hat Polen seit der ersten Studie 2008 bei der sozialen Gerechtigkeit von allen EU-Ländern den größten Sprung nach vorn gemacht.

Doch welche Schlüsse sollen Politiker aus den Erkenntnissen ziehen? Aart de Geus, der Vorstandsvorsitzende der Bertelsmann-Stiftung, fordert eine EU-weite “politische Führung”. Die Politik müsse einen “verlässlichen Rahmen schaffen”, damit alle vom Aufwärtstrend profitierten und “vor allem die Jugendlichen nicht alleingelassen werden”.